2015-06-15

„Idiotenbox“: So sehen Kinder aus, wenn sie fernsehen – auf dem Weg zur reizsüchtigen Gesellschaft

Wie sagte es der Publizist Hans Magnus Enzensberger einmal:


„Das Fernsehen wird primär als eine wohldefinierte Methode zur genußreichen Gehirnwäsche eingesetzt; es dient der individuellen Hygiene, der Selbstmeditation. Das Nullmedium ist die einzige universelle und massenhaft verbreitete Form der Psychotherapie.“

Wie macht sich so eine „Gehirnwäsche“ bemerkbar? Die in Australien geborene Fotografin Donna Stevens hat jetzt versucht, in Bildern aufzufangen, wie das Fernsehen auf Kinder wirkt.



Ihre Bilder zeigen, wie Kinder sich teilweise in faszinierende Geschöpfe verwandeln. Sie selbst nennt ihre Foto-Serie die „Idiot Box“.

„Die Idee dazu kam auf, nachdem ich gesehen habe, wie mein eigener Sohn mit dem Familien-iPad umgegangen ist“, sagte Stevens (Steve Jobs verbot seinen Kindern das iPad). Sie suchte sich an einer Schule in Brookyln Vorschul-Kinder und zeigte ihnen ihre Lieblings-Sendungen bei Netflix.



„Es wird ja immer gesagt, dass das Fotografieren von Kindern harte Arbeit ist, aber dieses Shooting war einfach“, erklärt Stevens. Keines der Kinder habe während der Aufnahmen geredet oder sich bewegt. „Ich habe ihnen in keiner Form Anweisungen gegeben. Und obwohl ich direkt vor ihnen mit der Kamera stand, haben sie mich kaum wahrgenommen.“



„Idiot Box versucht, die dunklere Seite unserer Liebe zu Technologien zu zeigen“, fasst Stevens ihre Intention zusammen.

„Sollten wir nicht vorsichtiger über die Rolle von Technologien in dem Leben unserer Kinder nachdenken? Oder ist unsere Technik-Paranoia gerechtfertigt? Egal, welchen von unseren technischen Spielereien wir die Schuld für unser Verderben geben, bleiben unsere Probleme nicht am Ende immer noch von Menschen gemacht?“



Zombie-Züchtungs-Maschinen eben…



Sehen Sie die strahlenden Kinderaugen? Bevor Ihr Kind und Sie vor dem TV, dem iPad oder einem Smartphone weiter verkümmern, laden wir Sie ein: Spielen Sie mit Ihrem Kind, basteln Sie, gehen Sie in die Natur, erfahren und fördern Sie die Kreativität Ihres Kindes, dass Bedarf aber Zeit, Geduld und Liebe!

Unterstützen Sie Ihre Kinder, damit sie selbstbewusste und mutige Menschen, anstatt gehorsame Konsumenten werden.

„Wir sind auf dem Weg zur reizsüchtigen Gesellschaft“

Die Selbststeuerungs-Fähigkeit des Menschen ist bedroht. Denn er ist heute vielen Reizen und Verlockungen ausgesetzt – von Speisen bis zum Smartphone. Wer immer sofort reagiert, verändert seine Gene.

Menschen sind in der Lage, vorausschauend zu handeln. Genau das ist ein Grund für den großen evolutionären Erfolg des Homo sapiens. Der Freiburger Mediziner und Psychiater Joachim Bauer sieht diese einzigartige Fähigkeit in Gefahr. Viele Menschen werden zunehmend zu Getriebenen, die den Gesetzen von Reiz und Reaktion ausgeliefert und nicht mehr selbstgesteuert sind. Die Ursachen und Konsequenzen dieser Entwicklung erklärt Professor Bauer im Interview.

Was ist Selbststeuerung?
Joachim Bauer: Ihr tiefer Sinn liegt darin, unser ganz eigenes, wahres Leben zu leben, zu unserer ureigenen Identität zu finden. Eine ihrer wichtigsten Voraussetzungen ist die Fähigkeit, mögliche Folgen des eigenen Handelns vorherzusehen, verschiedene Optionen abzuwägen und erst dann eine Entscheidung zu treffen. Diese Fähigkeit war das evolutionäre Erfolgsgeheimnis des Menschen. Die neuronalen Grundlagen finden sich im Stirnhirn, im sogenannten „Präfrontalen Cortex“. Unsere Spezies hat, relativ zur gesamten Hirnmasse, den größten präfrontalen Cortex.

Was passiert im Stirnhirn, wenn wir uns selbst steuern?

Joachim Bauer: Unser Verhalten wird von zwei Fundamentalsystemen im Gehirn beeinflusst. Das evolutionär ältere System ist das bottom-up wirkende Triebsystem. Dieses Reptiliengehirn ist auf die sofortige Befriedigung von Bedürfnissen ausgerichtet. Das zweite System sitzt im Stirnhirn und ist in der Lage, unser Triebsystem top-down zu kontrollieren. Wenn es gut trainiert ist, versetzt es uns in die Lage, die Befriedigung von Bedürfnissen aufzuschieben. Mit längerfristigen Strategien lassen sich meistens größere Belohnungen und Erfolge erzielen.

Sie sehen die Fähigkeit zur Selbststeuerung bedroht. Warum?

Joachim Bauer: Wir sind ständig Konsumreizen ausgesetzt, fast alles ist schnell zu haben, nicht nur billige und meist ungesunde Nahrungsmittel und Getränke. Die ständig aus den E-Mail-Accounts, Smartphones und sozialen Netzwerken kommenden Signale sind dabei, uns zu Reiz-Reaktions-Maschinen zu machen. Wir haben das Innehalten verlernt. Wir sind auf dem Weg zur süchtigen Gesellschaft. Die Folgen zeigen sich in einer massive Zunahme von Diabetes, Herzkrankheiten, Krebs und von nervösen Leiden.

Der Homo sapiens droht in den Reptilienmodus zurückzufallen?

Joachim Bauer: Ja. Die Art wie wir leben trainiert vor allem das „Go“, also schnelles Reagieren, nicht das „No go“, das Innehalten, das Abwarten und Erst-einmal-Nachdenken. Das betrifft nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder und Jugendliche.

Ist der Wohlstand ein Risikofaktor?
Joachim Bauer: Nicht der Wohlstand, der Überfluss ist das Problem. Auch materielle Not kann die Selbststeuerung beeinträchtigen. Wer sich Sorgen ums Existenzminimum machen muss, verfolgt nur kurzfristige Strategien. Auch die Bildung spielt hier übrigens eine wichtige Rolle, zu der sozial Schwache ja kaum Zugang haben. Deshalb müssen wir, wenn wir die Fähigkeit zur Selbststeuerung stärken wollen, hier bestehende Mängel angehen.



(Bild: Wenn das Smartphone Pling macht, können viele Jugendliche selbst in der Nacht nicht widerstehen, nachzuschauen, was es da Neues gibt)

Fällt es Kindern besonders schwer, den Verlockungen zu widerstehen?

Joachim Bauer: Ja. Kinder können das Innehalten, Nachdenken und Abwägen nur lernen, wenn Eltern und Pädagogen sie dazu anhalten. Erzieherinnen und Lehrkräfte in den Schulen berichten, dass es unseren Kindern von Jahr zu Jahr schwerer fällt, sich zu konzentrieren.

Wie soll man einem 14-Jährigen klarmachen, dass er langfristig profitieren würde, wenn er sich jetzt mal richtig konzentriert?

Joachim Bauer: Wir sollten sie nicht mit erhobenem Zeigefinger belehren, sondern mit ihnen über ihre Zukunft und die hier liegenden Chancen sprechen. Wenn Jugendliche das Einüben von Konzentration aber erst mit 14 Jahren beginnen, ist es zu spät. Kinder müssen ab dem dritten Lebensjahr liebevoll, aber auch konsequent angehalten werden, zu warten, zu teilen, Impulse zu kontrollieren und bei einer Sache zu bleiben. Wir Erwachsene müssen dabei mit gutem Beispiel vorangehen. Wenn Eltern etwa jedes Gespräch mit ihrem Kind sofort unterbrechen, wenn ihr Smartphone Pling gemacht hat, kann das nicht gelingen.

In Ihrem Buch „Selbststeuerung“ (siehe unten) kommt der Begriff Selbstverwirklichung nicht vor. Hängen Selbststeuerung und Selbstverwirklichung nicht eng miteinander zusammen?

Joachim Bauer: Sicher. Ich verwende allerdings die Begriffe der Identität und der Selbstfindung. Als Mediziner interessiert mich natürlich besonders der Zusammenhang zwischen Selbststeuerung, Lebensstil und Gesundheit. Man hat die Aktivitätsmuster der Gene von Menschen untersucht, die einen hedonistischen Lebensstil pflegen, denen es also auf kurzfristige und schnelle Genüsse ankommt. Zum Vergleich analysierte man die genetischen Aktivitätsmuster von Personen, die „eudaimonisch“ leben, also auf gute Selbstfürsorge achteten und sich um ein sinnvolles Leben bemühen. Menschen mit hedonistischem Lebensstil zeigen ein Aktivitätsmuster ihrer Gene, das Krebs, Herzerkrankungen und Demenz begünstigt. Planvoll lebende Personen sind nicht nur gesünder, sondern auch glücklicher. Auch das ist durch Studien belegt. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Leute, die auf schnelle Genüsse aus sind, die besseren Genießer sind.

Mit dem berühmten Marshmallow-Test lässt sich schon bei kleinen Kindern testen, wie sehr sie einer Versuchung widerstehen und zugunsten einer größeren Belohnung warten können. Lässt das bereits Aussagen über den späteren Lebenserfolg zu?

Joachim Bauer: Ja, durchaus. Kinder, die zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr nicht mit dem Lernen begonnen haben, zu warten, Impulse zu kontrollieren und sich zu fokussieren, haben als Erwachsene in jeder Hinsicht schlechtere Karten. Sie sind körperlich und psychisch weniger gesund, tun sich in zwischenmenschlichen Beziehungen schwerer und sind auch beruflich weniger erfolgreich.

Ihr Appell lautet: Mehr Selbststeuerung, auch um gesund zu bleiben.

Joachim Bauer: Ja. Wie wir leben, bleibt allerdings jedem selbst überlassen. Das soll auch so bleiben. Gute Selbststeuerung ist kein Joch, sondern ein Angebot zum Guten Leben.

Kann Selbststeuerung bei Kranken den Heilprozess fördern?

Joachim Bauer: Ja. Die neuronalen Module unseres Stirnhirns, die unser Selbstkonzept speichern, haben Einfluss auf alle wichtigen Zentren, die unseren Körper biologisch steuern, auch auf das Immunsystem. Von der Art und Weise wie wir uns wahrnehmen und wie wir über uns denken, können tatsächliche Selbstheilungskräfte ausgehen. Jede Krankheit kann für die Betroffenen ein Wendepunkt sein, sich selbst mehr Selbstfürsorge zu schenken und die Selbststeuerung zu verbessern.

Wie stehen Sie zur evidenzbasierten Medizin?
Joachim Bauer: Sie ist die Basis jeder guten Medizin. Evidenzbasiert, also durch Studien belegt, ist aber auch der große Einfluss der Psyche auf die biologischen Prozesse des Körpers. Jeder Mensch verfügt über Selbstheilungskräfte, die es zu aktivieren gilt. Eine unterschätzte Rolle spielt dabei die gute Arzt-Patienten-Kommunikation. Patienten mit schweren Erkrankungen sind nicht nur körperlich, sondern auch psychisch geschwächt. Ob und wie wir mit einem Patienten über seine Krankheit und über die therapeutischen Maßnahmen sprechen, hat Einfluss auf sein Selbstvertrauen, auf seine Zuversicht.



Kann umgekehrt schlechte Kommunikation auch krank machen?
Joachim Bauer: Ja. Und leider passiert genau das in unseren Kliniken viel zu häufig. Schlechte Kommunikation haben wir vor allem dort, wo Klinikträger hohe Renditen erwirtschaften wollen. Effizienz und kostenbewusstes Arbeiten sind wichtig. Wo Ärzte und Pflegekräfte aber einem ständigen gnadenlosen Zeitdruck ausgesetzt sind, nimmt die Qualität der Medizin drastisch ab. Ein Krankenhausstruktur-Gesetz, das die Qualität unserer Kliniken sichern will, muss auch diesen Aspekt berücksichtigen.

Wie wirkt sich der Übergang vom analogen in das digitale Zeitalter aus?
Joachim Bauer: Die Bedeutung dieses Wandels ist immens. Den größten direkten Einfluss auf unseren persönlichen Lebensstil haben die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, also die vielen Angebote des Internets, die sozialen Netzwerke, die Möglichkeit zum vernetzten Spielen, die Kommunikation per E-Mail und die Smartphones mit ihren unzähligen Apps. Viele dieser elektronischen Angebote haben Suchtpotenziale, sie sprechen im Hirn die gleichen Zentren an wie Kokain. Die entscheidende Frage ist: Wer hat die Macht über wen? Haben diese Geräte die Macht über mich, oder habe ich die Kontrolle? Steuere ich mein Verhalten oder werde ich gesteuert, lebe ich oder werde ich gelebt? Wer auf jedes Pling, das aus einem der Geräte – heute bezeichnet man sie ja gerne als „Gadgets“ – kommt, sofort reagieren muss, wird zu einer Reiz-Reaktions-Maschine und hat aufgehört, seinen Rhythmus selbst zu bestimmen. Inwieweit wollen wir es diesen Geräten also erlauben, uns vor sich herzutreiben, unseren Takt zu bestimmen und uns zu versklaven?

Warum ist bislang keine Lernkurve hin zu einem kontrollierteren Umgang mit den Geräten zu erkennen?

Joachim Bauer: Wir sind neurobiologisch als soziale Wesen konstruiert. Das wichtigste Bedürfnis des Menschen ist es, von anderen wahrgenommen und beachtet zu werden. Diese Wahrnehmung kommt heute vorwiegend aus dem Netz. Die Angst vor dem digitalen Tod, also keine Rückmeldungen aus den sozialen Netzen zu bekommen, ist bei manchen inzwischen größer als die Furcht vor dem realen, analogen Tod. Weil Beziehungen, die nur auf dem Internet basieren, eher flüchtig und daher nicht verlässlich sind, ist der emotionale Sättigungswert von Rückmeldungen aus dem Netz aber sehr gering. Deshalb entsteht ein Suchteffekt. Man braucht immer mehr davon, um sich immer wieder neu zu bestätigen. Der emotionale Sättigungswert bei realen menschlichen Begegnungen, bei denen man sich gegenübersitzt, sich anschaut und miteinander spricht, ist deutlich höher und viel nachhaltiger. Daher werden viele ihre digitalen Welten irgendwann angeödet wieder verlassen und den Reiz der analogen Welt wiederentdecken. Das Schönste im Leben ist es, freundliche, ganz reale Menschen um sich zu haben.

Literatur:
Die Lüge der digitalen Bildung: Warum unsere Kinder das Lernen verlernen von Gerald Lembke, Ingo Leipner
Die Diktatur der Dummen: Wie unsere Gesellschaft verblödet, weil die Klügeren immer nachgeben von Brigitte Witzer
Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen von Manfred Spitzer
Selbststeuerung: Die Wiederentdeckung des freien Willens von Joachim Bauer

Quellen: PRAVDA TV/huffingtonpost.de vom 12.06.2015
Gelesen bei:  http://www.pravda-tv.com/2015/06/idiotenbox-so-sehen-kinder-aus-wenn-sie-fernsehen-auf-dem-weg-zur-reizsuechtigen-gesellschaft/

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