2015-10-29

Die Zeitschlaufe des Vergehens

Es war eine Art meditatives Gehen, als ich durch den farbenprächtigen Wald ging. Das Knirschen der Blätter erinnerte mich an meine Kindheit. Damals machten wir ein Spiel daraus und stampften richtiggehend durch die Blätter und erfreuten uns an den lauten Geräuschen. Danach sammelten wir die bunten Blätter und klebten sie auf Papier und gestalteten wundersame Bilder, die allesamt irgendwo in der Wohnung hingen. Nicht zu vergessen die niedlichen Kastanienmännchen, die wir bastelten und an alle Verwandten verschenkten. Herbst war irgendwie Bastelzeit. Wie empfinden wir heute den Herbst?


Heute, wo wir erwachsen sind, eingespannt in unsere Arbeit und Verpflichtungen? Können wir noch die gleiche Freude empfinden wie einst, oder aber lassen wir uns von den Nebelschwaden langsam einhüllen und verfallen in eine Depression, die uns jegliche Freude raubt? Sehen wir die Farben oder sehen wir nur noch das Grau?

Ich ertappte mich dann beinahe, dass ich in einer Art Zeitschlaufe hängen blieb, geradezu mich wieder als Kind fühlte. Und so musste ich mich selbst wieder zurückholen in die Ist-Zeit, dies unfreiwillig, weil ich durch einen Jogger aus meinen Gedanken gerissen wurde. Ich stellte mir dann die Frage, wenn ich jetzt schon so oft gedanklich in der Kindheit verweile, wie es wohl sein wird, wenn ich kurz vor meinem Ableben stünde. Würde ich dann auch gedanklich in die heutige Zeit abdriften und mich an diese schöne Zeit erinnern? Vielleicht daran, wie ich Artikel schrieb? Und weiter stellte ich mir die Frage, ob es nur mir so erginge, dass man statt im Jetzt zu leben, stets der Vergangenheit nachtrauert? Die Kraft steckt wohl tatsächlich im Jetzt, in genau diesem Moment. Nicht vorher, nicht nachher, einfach jetzt. Doch es ist wahrlich eine Kunst, in diesem Jetzt verbleiben zu können, da einen die Vergangenheits-, wie auch die Zukunftsgedanken wie Tentakeln umklammern und aus dem Moment reissen. Das Üben aber lohnt sich, denn wenn wir zu fest in der Vergangenheit und der Zukunft leben, verpassen wir den Moment, was gerade um uns herum und mit uns geschieht. Und wenn wir diesen Moment verpassen, werden wir dies bereuen. Eines Tages. Auf dem Sterbebett. Es kämen dann die stereotypen Sätze wie:

“Hätte ich doch mehr Zeit mit meiner Familie verbracht.” Oder: “Hätte ich doch den Mut gehabt, wirklich mein Leben zu leben und nicht dieses, welches andere von mir erwarteten.”

Geboren als Original – gestorben als Kopie

Ja, wie ist es denn mit dem Mut, sein eigenes Leben zu leben? Haben wir diesen Mut? Oder gehen wir die altbekannten Wege, die abertausende Menschen bereits vor uns gingen? Fürchten wir uns davor, aus der Masse auszusteigen? Und wieso ist dem so? Vielleicht, weil wir uns dann plötzlich alleine fühlen, ausgeschlossen, anders? Tritt hier womöglich der Urschmerz zu Tage, welchen wir erlitten haben, als wir durch den Kanal des Vergessens gingen und rausgerissen wurden in diese kalte Welt der Trennung? Was blieb uns damals denn anderes übrig, als sich den Massen anzuschliessen? Damals galt, wenn es alle tun, es schon richtig sein würde. Man trottete so dahin und irgendwann dämmerte es womöglich, dass dies doch nicht alles sein konnte.

Anderssein bereitet Angst

Was passiert denn nun, wenn wir uns aus der Masse raus bewegen, wir andere Wege gehen, als von uns erwartet wird? Oftmals stoßen wir auf Widerstand und gut gemeinte Ratschläge, welche sich wie Schläge anfühlen. Plötzlich ergreifen uns die eigenen Ängste und jegliche Horrorszenarien werden im Kopf durchgespielt. “Was, wenn ich zu wenig Rente einbezahlt habe und dann unter der Brücke lande? Was, wenn ich keine Lebensversicherung habe? Was, wenn ich nicht genug zu essen habe? Was, wenn andere meine Hilfe benötigen und ich selbst nichts mehr zu geben habe im materiellen Sinne? Was, wenn ich krank werde und ich die Krankenkasse kaum oder gar nicht mehr bezahlen kann?”

Luxusprobleme

Wenn sich dann das Kopfkino der Grässlichkeiten kaum noch abstellen lässt, uns runterzieht und uns dann wieder schön ins Gehege der vielen braven Schafen treibt, werden wir uns als Versager fühlen und gleichzeitig würden wir wohl wütend werden, weil uns die Zukunft so aussichtlos erscheint. Doch ich frage mich, sind dies alles Luxusprobleme in einer Luxuswelt? Wie erleben dies denn die Naturvölker? Wie erleben dies die in unseren Augen primitiven Völker? Es sind jene Völker, die übrigens viel seltener krank sind, für die Krebs ein Fremdwort ist, Burnout und Depression gänzlich unbekannt. Kann es sein, dass wir uns selbst dermassen in ein Gefängnis stecken, dass wir krank werden müssen?

Ich stampfe derweil völlig präsent durch die bunten Blätter, geniesse das Geräusch, beobachte ein scheues Reh und sehe gar noch einen Fuchs, dessen Fell fast so rot wie die Blätter ist und sage zu mir: “Der Fuchs braucht keine Rente und das Reh auch keine Lebensversicherung. Sie „sind“ einfach und haben uns voraus, dass sie sich nicht tausend Gedanken machen können über das Morgen.”

Quelle: www.gehvoran.comwww.gehvoran.com

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