2018-01-31

Jesus, der Yogi


Das Christentum als zeitgemäßer Weg zu Gott erscheint heute vielen aufrichtig Suchenden – nach den finsteren Jahrhunderten seiner Existenz mit Kreuzzügen, Hexenverbrennungen und Ablasshandel – als unzureichende Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und als unzulängliche Methode, um das Göttliche direkt zu erfahren.

Der bekannte indische Yogi Paramahansa Yogananda (Autor der „Autobiographie eines Yogi“), der ab den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts die Lehre des Yoga in den Westen brachte, wirft in einem gerade neu übersetzten Werk einen frischen, spirituellen Blick auf die Lehren Jesu und kommt zu dem Schluss: Jesus war ein echter Yogi.

Die gemeinnützige Organisation Self-Realization Fellowship (SRF), die von Paramahansa Yogananda gegründet wurde, hat unlängst den zweiten Band der dreibändigen deutschen Ausgabe von Sri Yoganandas Auslegung der vier Evangelien veröffentlicht: „Die Wiederkunft Christi: Die Auferstehung des Christus im eigenen Inneren, Band II“ (Self-Realization Fellowship, Los Angeles, Kalifornien, 2017).

In den 75 Diskursen des Werkes erlebt der Leser eine beeindruckende Reise durch die vier Evangelien, die ihn mit der tieferen Bedeutung der Lehren Christi vertraut macht. Dazu gehören Themen wie die Taufe, der Heilige Geist, die Vergebung der Sünden, Himmel und Hölle, Auferstehung, Meditation und Reinkarnation sowie die Erforschung der Jahre Jesu in Indien. Diese Bände sind das Ergebnis von mehr als 30 Jahren Lehrtätigkeit Yoganandas im Westen und – zusammen mit seiner von der Kritik gefeierten Auslegung der Bhagavad- Gita, „Gott spricht mit Arjuna“ – Meilensteine seiner Mission, die grundlegende Übereinstimmung zwischen allen wahren Religionen darzulegen.

Nachfolgend ein Buchauszug aus Diskurs 53, „Die beiden höchsten Gebote erfüllen“ (mit freundlicher Genehmigung der Self-Realization Fellowship, Los Angeles, Kalifornien, www.yogananda- srf.org).

Und siehe, da stand ein Gesetzeslehrer auf, wollte Jesus auf die Probe stellen und sprach: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erlangen? Er aber sprach zu ihm: Wie steht es im Gesetz geschrieben? Was liest du dort? Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit ganzer Kraft und mit all deinen Gedanken, und deinen Nächsten wie dich selbst.« Und er sprach zu ihm: Du hast richtig geantwortet; tu das, und du wirst leben. (Lukas 10, 25-28)

In den beiden höchsten Geboten, die Jesus in diesen Versen zitiert, wird der ganze Zweck der Religion und letztendlich des Lebens selbst zusammengefasst. Sie bergen die Essenz der ewigen Wahrheit, die alle echten geistigen Wege auszeichnet: das unerlässliche Gebot, das der Mensch erfüllen muss, wenn er sich – als individualisierte, von Gott getrennte Seele – auf die Erkenntnis zurückbesinnen will, dass er eins ist mit seinem Schöpfer. …

Dass Gott den Menschen gebietet, Ihn mehr als alles andere zu lieben, mag uns unpassend für ein allmächtiges Wesen erscheinen. Alle Avatare und Heiligen haben jedoch tief innerlich gewusst, dass dieses Gebot keine überspannte Laune Gottes befriedigen soll, sondern dass es vielmehr eine Notwendigkeit ist, die es der individualisierten Seele ermöglicht, sich bewusst mit ihrem göttlichen Ursprung zu verbinden. Gott kann ohne die Liebe des Menschen leben. Aber wie die Welle nicht ohne den Ozean existieren kann, so vermag auch der Mensch nicht, ohne die Liebe zu Gott zu leben. Weil der Mensch als Ebenbild göttlicher Liebe erschaffen worden ist, dürstet jedes menschliche Herz nach Liebe. Deshalb legen Avatare und Heilige der Menschheit nahe, Gott zu lieben – nicht aus Zwang oder aufgrund eines Gebotes, sondern weil in jedem Herzen unmittelbar hinter der kleinen Welle menschlicher Liebe der Ozean Seiner Liebe wogt.

Erfolg durch totale Aufrichtigkeit

Alle Versuche, der Lehre Jesu rein äußerlich zu folgen, führen nur zu kurzer, oberflächlicher Zufriedenheit, aber nicht zur Erkenntnis Gottes. Der mahnende Hinweis, Gott von ganzem Herzen, mit allen Gedanken, von ganzer Seele und mit ganzer Kraft zu lieben, hat jedoch eine tiefere Bedeutung. Jesus benutzte zwar diese einfachen biblischen Worte, wählte sie jedoch in seiner Weisheit so aus, dass in ihnen die gesamte Wissenschaft des Yoga zum Tragen kommt – die Wissenschaft des transzendenten Weges zur Vereinigung mit Gott durch die Meditation. In Indien – wo spirituelle Einsichten schon Jahrtausende vor Jesu Geburt entstanden waren – hatten erleuchtete Weise diese Grundlagen zu einer allumfassenden spirituellen Philosophie ausgearbeitet, um Gottsuchern auf dem Weg zur Befreiung systematisch zu helfen. Wenn ein Mensch beim Meditieren danach strebt, Gott zu erkennen – mit der ganzen Aufrichtigkeit seines Herzens, mit seinem tiefsten Gefühl, mit der Intuition seiner Seele, mit der höchsten Konzentration seines Geistes und der nach innen gerichteten Lebensenergie oder Lebenskraft –, wird er ganz sicher Erfolg haben.

Die systematische spirituelle Schulung, die den Menschen lehrt, »Gott von ganzem Herzen zu lieben«, wird in Indien Bhakti-Yoga genannt – Vereinigung mit Gott durch bedingungslose Liebe und Hingabe. Der Bhakta hat erkannt, dass die Aufmerksamkeit eines Menschen immer auf jene Personen und Dinge gerichtet ist, die er liebt und an denen sein Herz hängt. So wie das Herz des Liebenden bei der Geliebten weilt und die Gedanken des Trinkers um den Alkohol kreisen, so vertieft sich das Herz des Gottsuchers unaufhörlich in die Liebe zu seinem göttlichen Geliebten.

Ausschließlich auf Gott konzentrieren

Gott »mit all deinen Gedanken« zu lieben, bedeutet, dass man sich ausschließlich auf Ihn konzentriert. Indien hat eine spezielle Wissenschaft entwickelt, mit deren Hilfe sich der Geist durch bestimmte Techniken auf eine einzige Sache konzentrieren lässt, sodass es dem Gottsucher während seiner Andacht gelingt, die Aufmerksamkeit ganz auf Gott zu richten. Wer sich bemüht, hingebungsvoll zu beten, dabei jedoch seine Gedanken abschweifen lässt – zur Arbeit, zum Essen, zu körperlichen Empfindungen oder zu anderen Ablenkungen –, kann Gott nicht mit all seinen Gedanken lieben. Die Bibel lehrt: »Betet ohne Unterlass!« Indiens Wissenschaft des Yoga hat genaue Methoden entwickelt, wie man mit voll konzentriertem Geist zu Gott beten kann. Gott »von ganzer Seele« zu lieben, bedeutet, den Zustand der überbewussten Ekstase zu erreichen – die Seele und ihre Einheit mit Gott direkt wahrzunehmen.

Wenn keine Gedanken mehr im Geist auftauchen, dieser jedoch von einer bewusst wahrgenommenen Allwissenheit erfüllt ist, wenn man durch intuitive Erkenntnis weiß, dass man alles verwirklichen kann, indem man es einfach anordnet, dann hat man den erweiterten Zustand des Überbewusstseins erreicht. Man schaut die Seele als Widerspiegelung Gottes und erlebt ihr Verschmelzen mit dem göttlichen Bewusstsein. Dies ist ein Zustand unbeschreiblicher Freude: Kristallklar erkennt die Seele den allgegenwärtigen Geist, der sich als Freude in der Meditation widerspiegelt.

Transzendente Verinnerlichung

Gott »von ganzer Seele« zu lieben, erfordert die völlige Ruhe transzendenter Verinnerlichung. Diesen Zustand kann man nicht erreichen, wenn man laut betet, gestikuliert, singt oder irgendetwas tut, was die sensomotorischen Funktionen des Körpers anregt. So wie der Körper und die Sinne im tiefen Schlaf inaktiv werden, ist dieser Rückzug ins Innere auch ein Kennzeichen für die überbewusste Ekstase – nur ist diese viel tiefer als der Schlaf. Zehn Millionen Mal erquickend zu schlafen, kommt nicht der Freude der Ekstase gleich. Es ist der Zustand, in dem der Mensch die Seele erkennt und in welchem er mit diesem wahren Selbst Gott innig lieben kann – Ihn, der die Liebe selbst ist.

Damit der Gottsucher die göttliche Anweisung – Gott von ganzem Herzen, mit allen Gedanken und von ganzer Seele zu lieben – befolgen kann, braucht er wissenschaftliche Methoden, die es ihm ermöglichen, »Gott mit all deiner Kraft« zu lieben. Yoga lehrt diese Wissenschaft. Wenn jemand schläft, ist das Bewusstsein untätig; die Kraft wird vom sensomotorischen System des Gehirns, von den Muskeln und den Nerven abgezogen und konzentriert sich in den Bereichen des Unterbewusstseins. Man kann so lange nicht in den Schlafzustand des Unterbewusstseins sinken, bis diese Lebenskraft – meist ohne eigenes Zutun – vom bewussten, sensorischen und motorischen Nervensystem abgezogen worden ist; ebenso wenig kann man ins Überbewusstsein eingehen (wobei man sich über das Unterbewusstsein erhebt), ohne zuvor bewusst den Strom dieser Lebensenergie von den Sinnen und Muskeln abgezogen zu haben.

Richtige Körperhaltung

Die Herrschaft über die Lebensenergie, die es einem ermöglicht, Gott mit ganzer Kraft zu lieben, beginnt mit der richtigen Körperhaltung – das heißt, mit Asana, der Schulung des Körpers, damit eine bequeme, ruhige Haltung das reglose Verweilen in der Meditation ermöglicht – und mit Atemübungen zur Kontrolle der Lebensenergie, das heißt, mit Pranayama, einer Reihe von Techniken, durch die man Atem und Herz beruhigen kann. Das Üben von Asana und Pranayama beruhigt das Herz, indem es die Lebensenergie wirkungsvoll von den Sinnen abzieht und den rastlosen Atem ruhig stellt, der das Bewusstsein des Menschen an den Körper bindet. Somit vermag sich der Yogi auf Gott zu konzentrieren, ohne vom Körper störend beeinflusst werden zu können.

Der Geist – wenn er getrennt ist von den Empfindungen – versenkt sich in einen Zustand transzendenter Verinnerlichung (Pratyahara). Der Gottsucher kann nun diesen befreiten Geist dazu nutzen, sich liebevoll mit Gott zu verbinden. Wenn es ihm gelingt, Gott mit konzentriertem, verinnerlichtem Bewusstsein zu lieben, spürt er allmählich diese Liebe zu Gott in seinem Herzen – wie sie auch die feinsten Regungen seiner Gefühle mit der Gegenwart Gottes durchdringt. Das von Gott erfüllte Herz fühlt dann den Geliebten Herrn im tiefsten Innern der Seele, wo die kleine Liebe der Großen Liebe begegnet und von ihr umfangen wird. Gott in der Seele zu empfinden, erweitert sich dann zum Erkennen Gottes in Seiner Allgegenwart (zum Samyama des Yoga: Dharana, Dhyana, Samadhi).

Die Lehren Jesu, die auf den ersten Blick einfach erscheinen, sind viel tiefgründiger, als sie von den meisten Menschen verstanden werden. Dass Jesus das gesamte System des Yoga – die wissenschaftliche Methode der Vereinigung mit Gott – gelehrt hat, wird in der Offenbarung des Johannes klar ersichtlich: im Mysterium der sieben Sterne und sieben Kirchen mit ihren sieben Engeln und sieben goldenen Leuchtern. Gottverwirklichung erreicht der Mensch, indem er die »sieben Siegel« dieser Zentren geistiger Wahrnehmung öffnet, um Herrschaft über alle astralen Kräfte des Lebens und des Todes zu gewinnen, mit deren Hilfe die Seele zur Befreiung aufsteigt.

Weitere Informationen über Paramahansa Yogananda und die Lehren der Self-Realization Fellowship
auf www.yogananda-srf.org

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