2018-05-17

Utopie Commoning? – Ein Blick zurück aus dem 22. Jarhundert


von Martin Bartonitz / faszinationmensch.com
Dies ist der zweite Beitrag einer Serien von Texten, die ich zum Teilen mit Euch zum Thema Commoning erhielt (zum 1. Beitrag). Es ist eine Kurzgeschichte aus der Perspektive eines Mädchens, das sich im 22. Jahrhundert von ihrer Uroma das Leben aus ihrer Zeit erzählen, und dies auf dem Hintergrund ihres heutigen Lebens kaum verstehen kann. Lasst Euch überraschen:

Ein historischer Tag

Lotte blinzelt noch etwas verschlafen, als sie die Sonnenstrahlen durch ihr Zimmerfenster an der Nase wach kitzeln. Langsam richtet sie sich in ihrem Bett auf und wirft einen Blick hinaus. Die Sonne lugt gerade zwischen einigen Wolken hervor und taucht den ansonsten noch relativ tristen Morgen des Frühjahrs in einen kurzen, fast sommerlichen Anblick. Die Bäume und Sträucher, die sie reichhaltig erblicken kann, sind tatsächlich schon ziemlich grün. Das war der Dreizehnjährigen bis zum Vortag noch gar nicht aufgefallen. Sie öffnet das Fenster und schaut hinaus in die Großstadt des 22. Jahrhunderts, in der sie lebt. Die Vögel zwitschern ihr alltägliches Morgenkonzert, ein paar Hasen und Eichhörnchen huschen umher, ab und an rollt fast lautlos ein kleines Auto vorbei, die vielen Fahrräder sind am Ende lauter. Doch am lautesten erscheinen letztlich die Vielzahl von Unterhaltungen der unzähligen Menschen unten entlang der einspurigen Straße, die sich zwischen weitläufigen Grünstreifen entlang schlängelt. Schließlich wohnen in der Stadt weit über 10 Millionen Menschen. Den Weckruf des Hahns im Garten des Nachbarblocks hat sie heute offenbar verpasst. Lotte atmet tief ein und glaubt, bereits den nahenden Frühling riechen zu können. Der Geruch frischer Blüte liegt jedenfalls in der Luft und gibt Lotte zusätzliche Kraft und Energie, um in den Tag zu starten.

„Mutti und Vati sind nicht in ihrem Zimmer. Offenbar sind sie bereits unten im Essensraum“, denkt sich das Mädchen. Deshalb beeilt sich Lotte mit dem Anziehen und huscht die drei Etagen im Treppenhaus nach unten. Uroma erzählte ihr einst, dieses Haus wäre früher ein sogenanntes Hotel gewesen, in dem Leute meist nur eine Nacht blieben oder Urlaub machten. Heute bietet es vielen Menschen und Familien Wohnraum.

Tatsächlich. Mutti sitzt bereits an einem der vielen Tische, die den Hausbewohnern hier für Aufenthalte und auch zur gemeinsamen Einnahme von Mahlzeiten zur Verfügung stehen. Sie hat sich eines der herumliegenden Tablets genommen, um die morgendlichen Nachrichten aus aller Welt zu lesen, aber vor allem, um zu schauen, was in der Nachbarschaft gerade los ist und was ansteht. Auf dem Weg zur Mutter trifft Lotte bereits auf viele vertraute Gesichter und grüßt auch bereits ein paar Freunde, die ebenfalls hier im Wohnhaus leben. Wie sie von ihrer Mutter erfährt, ist ihr Vater gerade in der Großküche und hilft bei der Vorbereitung des Frühstücks. Kochen ist eines von Papas leidenschaftlichen Hobbys. Er bereitet die besten Rühreier und Pfannkuchen im ganzen Haus zu und wird dafür von allen sehr geschätzt! Deshalb, und auch weil er überaus gern die Pfannen schwingt und sich neue Geschmacksnoten überlegt, meldet er sich oft freiwillig zum Küchendienst. So auch heute. Aber es dauert zumeist nicht lang, denn es sind noch viele andere Helfer dabei, die sich zwar jeden Morgen in neuer Konstellation zusammenfinden, aber auf fast magische Art und Weise zusammen ein gemeinsames Frühstücksbuffet für die knapp 200 Bewohner des Hauses zaubern. 
„Man ist hier gut organisiert!“, sagt Papa immer.

Da kommt er auch schon und setzt sich zu seinen beiden Lieben. Eigentlich ist Papa ein gut ausgebildeter Mechatroniker und die Familie wohnt vor allem deshalb seit ein paar Jahren hier in diesem Wohnhaus, weil es gleich nebenan eine Manufaktur gibt, in der Papa ein sehr spannendes Projekt begleitet, für das er oft bis spät in die Nacht noch am Computer sitzt und leidenschaftlich vor sich hin entwickelt. Was genau auch immer. Das hat Lotte bis heute nicht genau herausfinden können. Daneben kümmert sich ihr Papa aber auch um die Reparatur von Fahrrädern unten im Depot. Da gibt es immer Bedarf und er meint, die handwerkliche Arbeit und die kettenfettverschmierten Hände wären ein guter Ausgleich zum Bürosessel und hätten oft schon etwas Meditatives. Gemeinsam lassen sie sich heute Papas Bärlauchpfannkuchen schmecken, zu denen auch von den umliegenden Tischen reichlich Lob herüber schwappt. Der Vater erzählt, dass fast alle Zutaten aus dem Gemeinschaftsgarten der Bewohner stammen. Nur das Mehl stammt von einem Hof am Stadtrand, da die Bedingungen für Getreideanbau innerhalb der Stadt nicht die besten sind.

„Apropos Gemeinschaftsgarten“, fügt er dann hinzu, „wie ich vorhin in der Aufgabenliste des Gartens sehen konnte, stehen einige dringende Dinge an und es werden heute noch helfende Hände gesucht.“ „Das stimmt“, erwidert darauf Mutti, die sich viel im Garten aufhält und mithilft, da es ihr nicht nur Freude bereitet, sondern als Gelehrte für Techniken und Methoden der Permakultur die Gartenarbeit auch ihre Berufung ist. „Die Pflanzsaison geht nun in Kürze los und einiges muss zuvor noch verschnitten werden. Die Böden müssen wieder angereichert werden und wir Koordinatoren des Gartens haben den diesjährigen Pflanzplan fertiggestellt, so dass nun auch die Beete entsprechend vorbereitet werden können. Da ist noch einiges zu tun!“, meint sie. Deshalb beschließen die drei, den Vormittag zusammen im Garten zu verbringen und suchen sich aus dem vorgegebenen Aufgabenpool via App ein paar Vorhaben heraus, die sie in Angriff nehmen
wollen.

Lotte ist gern im großen Gemeinschaftsgarten ihres Quartiers. Es ist wunderschön hier, denn es gibt neben den ganzen Entdeckungen, die die Natur zu bieten hat, auch unzählige Möglichkeiten zum Spielen und zur Begegnung. Nicht nur soziale Räume, sondern auch kleine und auch größere Kunstwerke verschiedener Art fügen sich hier zu einem sich ständig im Wandel befindenden Arbeits-, Treff- und Erholungsgebiet für Groß und Klein sowie Jung und Alt. Hier draußen herrscht viel Tätigsein, aber es wird mindestens genauso viel gefeiert und einfach gelebt. Leider beginnt es aber heute bereits nach einiger Zeit zu regnen. Mutti und Vati lassen sich davon meist nicht gleich stören, aber Lotte verliert dann schnell die Lust am Garten. So auch heute. Kurzentschlossen verkündet sie, dass sie gerade lieber der Uroma einen Besuch abstatten möchte. Die Eltern haben nichts dagegen und so macht sich Lotte auf den Weg.

Oma wohnt nicht sehr weit entfernt. Es sind nur ein paar Blöcke und mit dem Fahrrad ist Lotte meist innerhalb einer viertel Stunde bei ihr. Aber der Regen verdirbt ihr gerade die Lust auf das Zweirad. Deshalb stellt sie sich zu den anderen zwei Herrschaften in das kleine Wartehäuschen zwischen ihrem und dem benachbarten großen Wohnhaus und tippt auf dem dortigen Pad ihren Zielort ein. Da sie allein und ohne Gepäck befördert werden möchte, sind keine weiteren Angaben nötig. Zwei voll besetzte Viersitzer und ein kleiner Bus fahren ohne anzuhalten vorbei. Die zwei Herrschaften, die offenbar gemeinsam unterwegs sind, steigen dann in einen weiteren Viersitzer ein, der bereits zwei Mitfahrer mitgebracht hat. Es dauert drei Minuten, ehe das autonom fahrende Auto anhält, dessen aktuelle Route wohl so günstig liegt, dass Lotte kaum einen zusätzlichen Umweg verursacht. Sie steigt hinzu und grüßt die beiden Insassen. Ein älterer Herr, der bereits recht
gebrechlich wirkt und samt Rollstuhl in das Gefährt eingestiegen war und ein kleiner Junge, vielleicht fünf Jahre alt, der Lotte mit großen Augen anschaut und vielleicht darauf hofft, dass sie während der kurzen Fahrt mit ihm spielt. Doch dann hat er wohl eher Lust aus dem Fenster zu schauen und alles zu beobachten, was er bei 30 km/h Geschwindigkeit so aufschnappen kann. Es sind wirklich wenige Autos unterwegs, diese aber nahezu immer voll besetzt. Ein ständiges Aus- und Einsteigen nervt zwar so manches Mal, schafft aber auch oft Gelegenheiten für interessante Gespräche und flüchtige Bekanntschaften.

Ihre Uroma, die sie gerade zu besuchen gedenkt, erzählt ihr oft von früher. Das sind zumeist unheimlich spannende Geschichten und Berichte, aber vieles ist Lotte so fremd und es fällt ihr oft schwer, sich die Dinge vorzustellen, von denen Oma erzählt. Sie kannte wohl noch Zeiten, in denen es mehrspurige Autobahnen gab, unzählige Verkehrsschilder am Straßenrand standen und riesige Plätze existierten, wo unheimlich viele Autos einfach nur herumstanden und darauf warteten, mal kurz benutzt zu werden. Aber auch die Straßen waren angeblich gesäumt von stehenden Autos, so dass sie oft sogar den Verkehrsfluss oder – einfach unvorstellbar – die Radfahrer und Fußgänger behinderten… Das alles gibt es heute nicht mehr. Straßen sind einspurig und es fahren auch in der Großstadt kaum nennenswert viele autonome Elektromobile. Man merkt sie jedenfalls kaum mehr.

Sie fahren lautlos und langsam, sind aber ständig im Fluss und verschwinden automatisch von der Bildfläche, wenn sie eine Wartung benötigen. Verkehrsschilder sind weitgehend überflüssig, schließlich „wissen“ die Autos genau, wo sie selbst, aber auch andere Fahrzeuge sind und koordinieren sich selbstständig. Nur die Hinweisschilder, die die Menschen zur Orientierung benötigen, fügen sich in den dichten, grünen sowohl Sauerstoff als auch Schatten spendenden Bewuchs zwischen den Häuserschluchten. Die in Omas Kindheit wohl erforderlichen Flächen für Straßen und stehende Autos – man nannte das wohl „betoniert“ – wurden inzwischen vollständig zurückgebaut und begrünt, so dass nicht nur viel Platz für Menschen im innerstädtischen Raum herrscht, sondern sogar auch größere Tiere hier Seite an Seite mit den Menschen leben können.

Uroma wohnt in einem buddhistischen Quartier. Einst lebte die ganze Familie zusammen im gleichen Haus. Doch eines Tages beschloss Uroma den Umzug in das kulturell andere Viertel. Sie meint auch heute noch, dass sie sich in dieser Kultur einfach sehr wohl fühlt, hier viele Gleichgesinnte vorfindet und so oft über gemeinsame Interessen philosophiert werden kann. Uromas Umzug damals war noch viel einfacher als der ihrer Enkelkinder mit insgesamt drei Koffern. Sie hatte lediglich ihr Handtäschchen dabei, in dem sie vor allem ihre Andenken an Urgroßvater aufbewahrt. An viel mehr hängt sie inzwischen nicht mehr. Sie erzählte, dass es in ihrer Kindheit noch Menschen gab, die für ihren Umzug einen großen Lastentransporter benötigten, weil sie Schränke, Tische und Unmengen von Gegenständen in unzähligen Kisten mit sich nahmen.

Lotte kann auch diese alte Geschichte kaum glauben! Schließlich gibt es das alles doch heute in jedem Haus und jedem Zimmer. Wozu braucht man denn einen bestimmten Tisch? Die sind doch letztlich alle recht ähnlich. Außerdem kann man sich einfach am Fundus in den Kleiderkammern der Wohnhäuser bedienen. Man nimmt sich, wonach einem gerade der Sinn steht und bringt es dann ins Wäschelager zurück, wo alles nach selbstorganisiertem Dienstplan der Bewohner gereinigt und wieder einsortiert wird. Uroma hatte ihr mal versucht zu erklären, dass es damals sogenannte „Moden“ gab und die Leute unterschiedliche „Geschmäcker“ hatten. Dafür hätte die Werbung auf der Straße und im Fernsehen gesorgt… Das müssen verrückte Zeiten gewesen sein, fällt Lotte dazu nur ein.

Wie immer freut sich Uroma riesig über Lottes überraschenden Besuch. Es ist kurz vor Mittag und Oma hält sich erwartungsgemäß in ihrem kleinen, persönlichen Zimmerchen auf. Sofort muss Lotte ihrer Uroma von den neuesten Erlebnissen aus der Schule berichten. Fast zufällig sei sie gerade auf die Theatergruppe aufmerksam geworden. Sie hatte zwar eins, zwei Mal davon gehört, dachte aber immer, das wäre irgendwie uncool, zumal da auch so viele Stücke aufgeführt werden, die noch weit vor Uromas Zeit entstanden waren. Doch dann hatte sie einer Freundin einen Gefallen tun wollen und ist zu einer ihrer Aufführungen gegangen. Zur eigenen Überraschung war das aber total toll!

Die aufwendig gestalteten Kulissen, die irrwitzigen Kostüme, die urkomische alte Sprache, die dann aber doch auch etwas Faszinierendes, Liebliches hatte… Jedenfalls hat sie der Theaterbesuch so berührt, dass sie gestern mit zur Probe gegangen ist und die Gruppe kennengelernt hat. „Ensemble“ ist der Fachausdruck, wie sie bereits gelernt hat. Neben ihrer Freundin spielen dort unter anderem auch zwei ältere Damen und ein Herr, der gut und gern ihr Ururopa sein könnte, mit. Er ist ebenfalls noch recht neu dabei und hat das Schauspiel gerade erst für sich entdeckt. Dann ist da noch ein junger Herr, der der hiesigen Sprache nicht mächtig ist. Jedoch hat er dort, wo er herkommt, leidenschaftlich geschauspielert und möchte das nun an seinem neuen Wohnort auch. Sein Sprachdecoder ist zwar in der Lage, die gesprochene Sprache in Echtzeit zu übersetzen, weshalb normale Unterhaltungen mit ihm auch problemfrei funktionieren, aber für ein authentisches, oft historisches Schauspiel ist das einfach unpraktisch. Ebenfalls aufgefallen war Lotte ein anderer Mann mittleren Alters, der körperlich stark beeinträchtigt ist. Er leidet wohl an einer Muskelkrankheit und ist auf seinen Rollstuhl angewiesen. Allerdings hat er eine wahnsinnig eingängige Stimme, mit der er so gefühlvoll singen kann, dass sich jedes Herz öffnet. Die Koordinatorin hat jedenfalls ganz gut zu tun mit der Truppe und es ist, wie bei allen Angeboten in der Schule, ein reges Kommen und Gehen. Das würde natürlich nicht funktionieren, wenn die Koordinatorin alles allein organisieren müsste. Vielmehr tragen alle zum gemeinsamen Lernerlebnis bei und tauschen ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihre mitgebrachten Ideen untereinander aus.

Obwohl Lotte noch sehr neu in der Schauspielgruppe ist und sich hier erst noch integrieren muss, kennt sie das Prinzip bereits von den anderen Angeboten, die sie bisher ausprobiert hat. Zuletzt war sie begeisterte Teilnehmerin im Zirkel der Naturwissenschaftler. Gerade die physikalischen Experimente haben sie beeindruckt und gefesselt. So sehr, dass sie die Gesetzmäßigkeiten hinter dieser „Magie“ begreifen wollte und letztlich auch die Formeln beherrschte, um Vorgänge zu berechnen und korrekt vorherzusagen. Das fand sie toll! Aber gerade fasziniert sie das Theater mehr und andere Angebote gibt es ja ebenfalls noch im Überfluss zu entdecken! Auf ihre experimentierfreudigen Freunde wird sie aber gewiss auch in Zukunft nicht ganz verzichten. Uroma amüsiert sich jedenfalls herrlich über die Begeisterung ihrer Urenkelin und freut sich, dass die jungen Menschen heutzutage auch in Lottes Alter mit Genuss zur Schule gehen, um dort Neues zu lernen.

Leicht betrübt erinnert sie sich noch an ihre Schulzeit, als zum Teil noch Gleichaltrige in Klassen gesteckt wurden und ihnen wohlmeinend gesagt wurde, wann sie was zu lernen hätten. Wie undenkbar das heute doch rückblickend erscheint! Wieso ist ihr das damals nur nicht aufgefallen und wurde allseitig akzeptiert? Na ja, nun freut sie sich jedenfalls darüber, dass Lernen wieder etwas Positives ist und nichts Zwanghaftes, dessen man sich als „Erwachsener“ endlich entledigen durfte und es dann auf Grund der vielen Negativerfahrungen zu vermeiden versuchte. Heute gibt es kein bestimmtes Schulalter mehr. Alle gehen zur Schule und lernen dort was, wann und wie sie wollen! Bis ins hohe Alter.

Unten im Speiseraum herrscht reger Betrieb. Nicht ungewöhnlich zur Mittagszeit. Zum Glück hatte sich Uroma heute nicht für die Küche gemeldet, wo doch überraschend Besuch anstand. Aber oft findet sich auch kurzfristig eine Lösung für solche Situationen. Es gibt heute eine leckere Suppe nach altem Rezept und natürlich mit Zutaten aus dem Garten des hiesigen Quartiers. Aber Lotte weiß auch, dass einige Dinge aus dem Garten ihres Wohnhauses stammen, denn schließlich teilt man die Dinge und tauscht sich aus, so dass nicht jeder alles anbauen muss und es viele Spezialisierungen gibt, je nach Ort und Leuten mit entsprechenden Kenntnissen in Pflege und Verarbeitung.

„Schau mal Oma, da kommt Chen“, ruft Lotte plötzlich. Chen wohnt ebenfalls in Uromas Wohnhaus und ist etwas jünger als Lotte, doch die beiden verstehen sich sehr gut, spielen oft miteinander und lieben es, Omas Geschichten zu lauschen. Das kleine Mädchen stammt ursprünglich aus dem ländlichen Umfeld von Peking und ist bereits vor Jahren mit Tante, Onkel und einem Cousin hierher gezogen. Sie spricht völlig akzentfrei und die beiden Mädchen reden über nahezu alles miteinander. Jedoch hat Lotte bisher nie erfahren dürfen, warum Chens Eltern nicht auch mit hierher gekommen sind. Das wäre ein Familiengeheimnis!

„Wusstet ihr eigentlich, dass Peking früher die Hauptstadt von China war?“, fragt die Oma. „Was ist denn eine Hauptstadt?“, entgegnet Chen. „Na ja“, fährt die Urgroßmutter fort, „früher gab es mal Länder und eines davon, ein sehr, sehr großes, hieß eben China. In jedem Land gab es dann eine Stadt, in der die jeweilige Regierung des Landes saß, was sie dann eben zur Hauptstadt machte.“ „Was ist – oder vielmehr war – denn ‚ein Land‘?“ „Ja…, also… ähm“, weiß Uroma nicht so recht zu erklären. „Früher teilten die Menschen die Welt auf und zogen Grenzen zwischen verschiedenen Völkern und Kulturen. Innerhalb der Grenzen betrachteten sich die Menschen als Gemeinschaft, aber außerhalb der Grenzen war man sich fremd und teilweise sogar feindlich gesonnen.“ „Wie kamen denn die Menschen überhaupt auf die Idee, andere auszugrenzen?“, hakt Lotte ein. „Das ist am Ende historisch gewachsen. Letztlich hing es damit zusammen, dass die Menschen über sehr lange Zeit die Vorstellung von Eigentum entwickelt hatten und deshalb den Boden, die Schätze ihres Territoriums und die Erträge ihrer geleisteten Arbeit für sich ganz allein beanspruchen wollten.“ Oma setzt fort: „Darüber hinaus versuchte man auch den anderen Menschen, sowohl im alltäglichen Kleinen, wie auch unter ganzen Ländern, durch vertragliche Ansprüche, rechtliche Klagen und oft genug auch Kriege am Gartenzaun und großen Grenzen das Eigentum streitig zu machen. Kriege gab es vor allem immer dann, wenn sich die Dinge aus verschiedensten Gründen nicht mehr finanziell mit Geld regeln ließen…“

„Das mit dem Geld hast Du mir schon so oft erklärt Oma“, unterbricht Lotte, „aber ich verstehe das bis heute nicht.“ „Ach, mein Kleines, ich auch nicht, falls Dir das ein Trost ist!“, antwortet die Uroma und lacht. „Geld war ein Mittel, um Eigentum von einem auf einen anderen zu übertragen. Die damaligen sogenannten Wirtschaftswissenschaften behaupteten immer, Geld sei nur ein neutrales Tauschmittel. Doch wie sich letztlich herausstellte, war es das am Ende ganz und gar nicht und ist es vielleicht auch niemals gewesen. Es sorgte jedenfalls dafür, dass reiche Menschen immer reicher wurden und der Masse an Armen letztlich immer weniger blieb. Das Geldsystem verschleierte hier unheimlich viel und die Menschen begriffen erst sehr langsam, was das Geld mit ihnen machte – vor allem auch psychisch.“

„Arm und reich?“, fragt Chen, „gibt es das heute eigentlich auch noch?“ „Nein, mit der Aufgabe von Eigentum verschwanden auch diese Attribute aus der daraufhin entstandenen Weltgesellschaft. Für die Menschen damals war die Unterscheidung in arm und reich genauso selbstverständlich und naturgegeben wie in groß und klein. Heute wissen wir alle nur zu gut, dass das ein Irrglaube war, der einigen wenigen Nationen materiellen Wohlstand auch auf Kosten unzähliger Menschenleben einbrachte. Das war auch Teil einer Art Religion, die eine sehr lange Menschheitsepoche prägte und die man als ‚Patriarchat‘ bezeichnete. Sie endete erst „vor Kurzem“ mit der besagten Aufgabe von
Eigentum.“

„Und wie kam es dazu, dass die Menschen begannen, das Eigentum in Frage zu stellen und dann aufzugeben?“, fragt Lotte. „Es war vor allem die Idee der Commons, die sich auf Grund des Anfang des 21. Jahrhunderts zur Normalität gewordenen Internets, schnell verbreiten konnte. Die Menschen hörten zunehmend auf damit, Waren zu produzieren, die sie untereinander mit Geld auf Märkten tauschten, sondern produzierten stattdessen mehr und mehr Commons, die man miteinander teilte. Das machte auch nicht lang an den Landesgrenzen halt. Zunehmend lernte man, sich mit Hilfe des Internets zu organisieren und löste sich damit Schritt für Schritt von den sogenannten Märkten, die zuvor mehr unkontrolliert und oft fehlgeleitet für die ungleiche Verteilung von Gütern und Leistungen aller Art genutzt worden waren…“

„Das ist mir alles zu viel! Ich verstehe nur noch Bahnhof. Geld, Märkte, Eigentum…“, ist Lotte ganz entrüstet während Chen drein blickt, als hätte sie bereits lange den Faden verloren. „Und dann wurde da ja auch noch getauscht, nicht wahr? Man musste immer etwas geben, damit man zum Beispiel etwas zu Essen bekam, richtig?“ „Das stimmt“, antwortet Uroma. „Zumeist musste man Geld geben, das man wiederum bekam, wenn man für jemanden Arbeiten verrichtet hat.“

„Warum haben die Menschen das damals nur so gemacht? Ich kann mir das alles gar nicht vorstellen, wenn ich heute einfach in das Vorratslager oder das Versorgungszentrum gehe und abhole, was die Hausgemeinschaft oder ich persönlich zum Leben und für den Alltag benötigen“, ist Lotte völlig ratlos. Oma lacht wieder. „Um ehrlich zu sein, fällt es mir heute auch verdammt schwer, mich in die alte Zeit zu versetzen. Das war damals eben einfach so. Vermutlich war es eine weit verbreitete Angst, die für all die Entwicklungen und Umstände sorgte, bzw. diese auch recht lange aufrecht erhielt. Es war die Angst, es könnte nicht für alle reichen und es wäre einfach nicht genug für alle da. Wenn ich mich recht erinnere, bekamen die Menschen beispielsweise damals höllische Angst bei der Vorstellung, man müsse irgendwann 10 Milliarden Menschen auf der Erde ernähren. Das erschien einfach unmöglich! Und das war es auch in der Tat. Zumindest mit den damals eingesetzten Mitteln der industriellen Landwirtschaft. Heute hat sich die Weltbevölkerung sogar bei 15 Milliarden Menschen eingependelt und, oh Wunder, alle werden problemlos satt! Sogar die Millionen Menschen, die damals auf Grund der profitgetriebenen Mangelwirtschaft hungern mussten“, resümiert die Uroma mit einem augenzwinkernden, aber zugleich wehmütigen Gesichtsausdruck.

„Ich befürchte, ich muss in die Schule und mir einen Intensivkurs in Geschichte organisieren. Da gibt es einfach so unzählige Fragezeichen!“, resigniert Lotte. „Ich würde einfach gern verstehen, was sich die Menschen damals bei all dem dachten! Schließlich brachten sie ja den Planeten letztlich sogar bis an die Grenzen seiner natürlichen Selbstregulationsmöglichkeiten, ehe sie inne hielten und begannen umzudenken. Wir sind schließlich noch heute schwer damit beschäftigt, unser Klima wieder in den Griff zu bekommen und die Umweltschäden so gut es geht zu beseitigen. Das wird die Menschheit wohl auch noch durch weitere Jahrhunderte begleiten müssen. Was ist denn eigentlich aus den Commons geworden? Da spricht ja heute eigentlich niemand mehr davon!?“

„Wie Recht Du hast“, seufzt die Uroma noch etwas wehleidiger. „Obwohl ich zu einer Zeit geboren wurde, in der der Wandel bereits im Gange war, fühle ich mich noch immer mitschuldig an dem verheerenden Zustand, den Deine Vorgängergenerationen hinterlassen haben. Große Teile der Erde sind noch immer in schwere Mitleidenschaft geraten und wir haben Glück, hier einen inzwischen so paradiesischen Ort geschaffen zu haben. Es wartet aber noch viel Arbeit auf euch, um auch die ganze Erde wieder fruchtbar und gedeihlich zu gestalten. Ich denke jedoch, das Schlimmste ist hier und heute überwunden und dafür müssen wir dankbar sein! Dass die Menschen so lange mitspielten und bei der Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen zuschauten, lag wohl vor allem daran, wie sie damals geprägt wurden und aufwuchsen. Bereits in ihrer Kindheit wurden die kleinen Menschen zumeist ordentlich gemaßregelt und durch ihre Eltern nach bestimmten Idealen erzogen. Daran knüpften dann auch die Erzieher und Lehrer, wie man die Gelehrten früher nannte, in den Bildungseinrichtungen an, die darauf angewiesen waren, disziplinierte und gehorsame Schüler vor sich zu haben. Schließlich war ihre Aufgabe letztlich nichts anderes, als ihnen Dinge beizubringen, die sie nicht unbedingt interessierten, die die Gesellschaft der sogenannten Erwachsenen aber für lebenswichtig erachtete. Die meisten jungen Menschen passten sich schnell daran an, dass sie am besten fuhren, wenn sie darauf hörten, was ihnen gesagt wurde, denn sonst drohten ihnen Strafen.

Diese Einstellung behielten die dann Herangereiften weiter bei und ließen sich in der Regel auch vorschreiben, wie sie ihre Arbeit im Berufsleben zu erledigen hätten. Die Wenigsten gingen ihrem Tagwerk aus Liebe zur Sache nach. In der Regel tat man, was man tun musste, um das Geld zu erhalten, was man brauchte, um sich eben sein Essen und sein Leben leisten zu können. Sein eigenes Tun kritisch zu hinterfragen und Einspruch zu erheben, war einfach nicht üblich. Die Meisten schoben dann die Verantwortung für Probleme und Fehler, die dabei entstanden, einfach an übergeordnete Instanzen wie Chefs, Politiker oder eine höhere Macht. Das alles gibt es heute zum Glück nicht mehr! Deshalb agieren die Menschen heute auch wesentlich bewusster und auch selbstbewusster. Niemand bestimmt oder herrscht mehr bzw. denkt für andere. Das war leider nicht immer so und führte ja, wie alle irgendwann erkennen konnten, auch bis an den Rand der Katastrophe. Erst als die Menschen mehr und mehr realisierten, dass die Politiker und Regierenden ihnen zwar ständig etwas von Reformen und Lösungen erzählten, die Krisen und die Umstände aber von Tag zu Tag schlimmer wurden, begannen sie nach und nach Verantwortung für sich und die Welt zu übernehmen und sich von den Obrigkeiten abzuwenden, um die Dinge selbst zu regeln.

Die Commons sind im Übrigen inzwischen zu einer solchen Selbstverständlichkeit geworden, dass sie keiner Erwähnung mehr bedürfen. Vielmehr haben die Menschen heute auch wieder begriffen, dass die Commons nichts anderes als einen ursprünglichen Zustand beschrieben haben, also einem, in dem sich Menschen, Tiere und Pflanzen alles teilen, was die Natur zu bieten hat. Der Mensch ist nun wieder eingebunden in das natürliche Geflecht und versucht es nicht mehr zu beherrschen, sondern vielmehr im Sinne des Gemeinwohls zu gestalten.“

„Liebe Oma, liebe Chen, ich muss los!“, springt Lotte plötzlich auf. „Ich gehe jetzt in die Schule und suche dort nach Frau Lehmann. Soweit ich gehört habe, soll sie sich hervorragend mit der Zeit des großen gesellschaftlichen Wandels auskennen. Wenn ich Glück habe, dann treffe ich sie auch an und sie nimmt sich Zeit für mich und meine tausend Fragen. Andernfalls verbringe ich den Nachmittag in der Bibliothek und suche mir Bücher und historische Berichte dazu. Ich denke, es wäre gut für mich, die Dinge besser zu begreifen.“ Die drei verabschieden sich liebevoll mit einem herzlichen Drücker und auch Chen ist von der Unterhaltung noch ganz durcheinander und will vielleicht später noch mal mit ihrem Onkel darüber reden.

Am Abend liegt Lotte in ihrem Bett. Ihr brummt ein wenig der Schädel von den vielen Gedanken, die sie heute gehört, erfahren und sich gemacht hat. Obwohl sie sich bis in den späten Abend mit dem offenbar bisher revolutionärsten Wandel der Menschheit beschäftigt hat, kann sie sich noch immer nicht in die Denkweise der inzwischen ausgestorbenen Gattung „Homo Oekonomicus“ hinein versetzen. Zu abwegig erscheint ihr sein liebloses Handeln. Aber was sie an diesem Nachmittag in jedem Fall erfahren und gelernt hat, ist ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit für die Menschen, die mit dem Wandel gerade noch rechtzeitig begonnen haben und als Pioniere damit starteten, im Sinne der damaligen Zeit unlogisch zu handeln und die Gesellschaft in diese friedliche und zukunftsfähige umzugestalten, in der sie heute leben darf.

Literaturempfehlungen:

[1] Das Thema Commoning wird intensiv auch auf dieser Plattform diskutiert: keimform.de. Einen Artikel von dort hatte ich auch hier auf dem Blog veröffentlicht:
Wird die Transformation unserer Gesellschaft von der Ware zu den Commons laufen?

[2] Ich bekam vor ein paar Jahren ein sehr inspirierendes Buch in die Hand, das das Leben in einem ähnlich gestalteten Dorf schilderte, und schrieb darüber:
Jamilanda – die öko-ligente LebensArt

Silke Helfrich hat zusammen mit der Heinrich-Böll-Stiftung ein sehr schönes Buch mit dem Titel Commons: Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat herausgegeben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Bei Kommentaren bitten wir auf Formulierungen mit Absolutheitsanspruch zu verzichten sowie auf abwertende und verletzende Äußerungen zu Inhalten, Autoren und zu anderen Kommentatoren.

Daher bitte nur von Liebe erschaffene Kommentare. Danke von Herzen, mit Respekt für jede EIGENE Meinung.