Das „innere Kind“ steht als Metapher dafür, dass jede Psyche stark von der Kindheit geprägt ist. Alle Menschen haben Licht und Schatten, Stärken und Schwächen, tragen sowohl ein „Schattenkind“ als auch ein „Sonnenkind“ in sich. Um sich stark und lebendig zu fühlen, hilft die Arbeit mit dem inneren Kind. Beide Anteile müssen gut im „Erwachsenen-Ich“ integriert sein.
Wie kann man sich die menschliche Psyche vorstellen? Die menschliche Psyche ist eine Blackbox, ein Mysterium, ein schwarzes Loch. Niemand hat die Psyche, die Seele, das Selbst, das Ich oder wie immer man es nennen will, je gesehen. Man kann die Psyche nicht vermessen, nicht unter dem Mikroskop beobachten und auch nicht nach dem Tod sezieren. Man kann die Psyche nur in ihren Auswirkungen auf das menschliche Verhalten, auf die Art zu Denken und zu Fühlen beobachten und dann seine Schlüsse daraus ziehen. Deshalb ist die Psychologie auch keine exakte Wissenschaft, sondern eine Wissenschaft, die ihre Hypothesen, Theorien und Modelle auf Erfahrungen aufbaut, die man aus Beobachtungen und dem inneren Erleben gewinnt.
Modelle unserer Persönlichkeit
Gerade weil die Psyche eine Blackbox ist und menschliche Verhaltensweisen und Gefühlsreaktionen oftmals rätselhaft und unverständlich erscheinen, gibt es seit Menschengedenken die Tendenz, Modelle der menschlichen Psyche zu entwickeln. Schon Hippokrates entwickelte um 400 v. Chr. die Viersäftelehre und der griechische Arzt Galenos von Perganon machte daraus um 200 n. Chr. eine Temperamentenlehre, indem er den vier Flüssigkeiten des Körpers – Blut, Schleim, schwarze und gelbe Gallenflüssigkeit – je ein Temperament zuordnete. Er war der Ansicht, dass sich je nach Vorherrschaft eines dieser vier Flüssigkeiten das damit verbundene Temperament besonders hervortrete. Er unterteilte die Menschen in heitere Sanguiniker, verdrängende Phlegmatiker, wütende Choleriker und traurige Melancholiker. Diese Unterteilung behielt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein seine Gültigkeit und hat in der Anthroposophie Rudolf Steiners bis heute seine Bedeutung.
Der erste Mensch, der für sich in Anspruch nahm, ein nach Maßstäben der empirischen Wissenschaft gültiges Strukturmodell der menschlichen Psyche gefunden zu haben, war Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse. Er unterteilte die Psyche am Anfang des 20. Jahrhunderts nach den Motiven seiner Handlungen in drei Teilbereiche: Im „Es“, „Über-Ich“ und „Ich“. Im „Es“ seien die Triebe, die Bedürfnisse und die Emotionen zu Hause. Im „Es“ siedelte Freud auch das Unbewusste an, das ja bekanntlich zu 90 Prozent unser menschliches Handeln bestimmt. Seitdem sind alle Psychotherapien darauf aus, soviel wie möglich aus dem Unbewussten ins Bewusstsein zu bringen, damit unsere unbewussten Muster uns nicht gänzlich bestimmen. Mit dem „Über-Ich“ bezeichnete Freud jene psychische Struktur, in der die aus der erzieherischen Umwelt verinnerlichten Handlungsnormen, Ich-Ideale, Rollen und Weltbilder gründen. „Ich“ bezeichnet jene psychische Strukturinstanz, die mittels des selbstkritischen Denkens vermittelt zwischen den Wert- und Normvorstellungen des Über-Ich und der sozialen Umwelt einerseits und den Bedürfnissen und Emotionen des nach dem Lustprinzip lebenden „Es“ andererseits, mit dem Ziel, psychische und soziale Konflikte konstruktiv aufzulösen.
Dieses dreigeteilte Modell hat sich mehr oder weniger bis heute gehalten und spielt bei der Arbeit mit dem inneren Kind eine wichtige Rolle. Die Diplom-Psychologin Stefanie Stahl kommt in ihrem sehr gelungenen Buch „Das Kind in dir muss Heimat finden“ auch auf drei Instanzen. Sie arbeitet mit drei Persönlichkeitsanteilen: Dem fröhlichen „Sonnenkind“, dem verletzten, traumatisierten, neurotischen „Schattenkind“ und dem inneren rationalen „Erwachsenen“. Das „Sonnenkind“ und das „Schattenkind“ entsprechen dem Freudschen unbewussten „Es“, wobei das „Sonnenkind“ für eine geglückte Sozialisation steht und das „Schattenkind“ für eine missglückte Sozialisation. Der innere Erwachsene entspricht dem „Ich“ bei Sigmund Freud.
Das Schatten- und das Sonnenkind
Welche Emotionen wir überhaupt in uns wahrnehmen, wie wir also fühlen und mit welchem Lebensgefühl wir in der Welt sind, hängt neben unseren angeborenen Fähigkeiten und Ressourcen von unseren Kindheitserfahrungen ab. Sind wir in unseren Bedürfnissen nach Verbundenheit, Autonomie, Lustbefriedigung und Anerkennung oft frustriert worden, haben wir viele Schutzstrategien und negative Glaubenssätze und einen Körper- und Charakterpanzer gebildet. Die daraus entstandenen seelischen Schmerzen, nicht wir selbst sein zu dürfen, wanderten ins unbewusste „Schattenkind“ ab und werden durch Trauer, Wut, Scham- und Schuldgefühle bewacht. Das Selbstwertgefühl ist im Schattenkind sehr fragil und das Vertrauen in die Verlässlichkeit von anderen Menschen mehr oder weniger erschüttert. Um diese belastenden Emotionen nicht zu fühlen, entwickelten wir einen Selbstschutz in Form von Strategien, auf die wir stolz sein können. Auf die gängigsten Schutzstrategien wie Rückzug, Perfektionsstreben oder Machtstreben werde ich später noch eingehen. Das „Sonnenkind“ steht für unsere positiven Prägungen und guten Emotionen wie Freude und Liebe. Hier vereinen sich alle Fähigkeiten und Ressourcen zu einem intakten Selbstwertgefühl und einem Urvertrauen, mit den Herausforderungen des Lebens fertig zu werden. Jeder Mensch hat je nach Veranlagung und Kindheitserfahrungen unterschiedlich ausgeprägte „Sonnen-“ und „Schattenkinder“ in sich, wobei es der Schattenkindanteil unserer Psyche ist, der uns immer wieder Probleme macht, zumal wenn er unbewusst und unreflektiert ist.
Wie entwickelt sich das innere Kind?
Als Babys sind wir eine lange Zeit nach der Geburt in einer vollkommen unterlegenen und abhängigen Lebenslage. Deswegen gibt es auch bei einer guten Kindheit Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht und einen Anteil, der Verletzungen davongetragen hat. Auch die liebevollsten Eltern können ihrem Kind nicht jedes Bedürfnis erfüllen, sie müssen das Kind begrenzen, sodass es Triebverzicht und Bedürfniskontrolle lernt. Vor allem das zweite Lebensjahr, dass durch Neugier und Erforschung der näheren Umgebung geprägt ist, ist durch viele Verbote und Begrenzungen seitens der Eltern bestimmt. Da alle Kinder nicht ausschließlich nur gute oder nur schlechte Erfahrungen mit ihren primären Bezugspersonen gemacht haben, gibt es in jedem Menschen ein Schatten- und ein Sonnenkind. Halten sich Angebote und Verbote durch feinfühliges Verhalten der Eltern die Waage, kann das Kind eine sichere Bindung und Selbstvertrauen in seine Fähigkeiten und Eigenschaften entwickeln.
Schwierig wird es nur, wenn die Eltern grundsätzlich überfordert sind mit ihren Kindern und sie entweder schlagen und anbrüllen oder vernachlässigen. Dann gibt sich das Kind die Schuld daran und denkt, es wäre falsch oder schlecht. Die ersten zwei Lebensjahre entscheiden darüber, ob ein Kind sich grundsätzlich willkommen fühlt auf dieser Welt oder nicht. Und wenn die Versorgung des Kleinkinds mit Füttern, Baden und Wickeln nicht durch Streicheln, liebevolle Blicke und eine angenehme Stimmlage geprägt ist, kann es statt des Urvertrauens zu einem Ur-Misstrauen kommen, dass sich – da außersprachlich – tief in das Körpergedächtnis einprägt und entsprechend großen Einfluss auf die spätere Lebensqualität und das Lebensgefühl hat. Dementsprechend schwer sind die späteren Störungen, was oft zu langwierigen Therapien führt, weil die Schutzstrategien stark ausgeprägt sind.
Das Bedürfnis nach Bindung: Dieses Bedürfnis ist in der Bindungsforschung gut untersucht worden. Ohne Bindung, das heißt ohne Körperkontakt und körperliche Versorgung kann ein Säugling nicht überleben. Das kindliche Bedürfnis nach Bindung kann von den Eltern durch Vernachlässigung, Ablehnung oder Misshandlung frustriert werden. In den meisten Fällen ist die Bindungsfähigkeit des Kindes beeinträchtigt, wenn das Bedürfnis nicht ausreichend erfüllt wurde.
Das Bedürfnis nach Autonomie: Neben Kuscheln und Füttern will das Kleinkind auch seine Umgebung entdecken und erforschen, weil es neugierig ist und lernen will. Wird dieser angeborene Erkundungsdrang durch Überbehütung und starke Kontrolle frustriert, bekommen diese Kinder ein schlechtes Selbstwertgefühl und bleiben ihr Leben lang unter ihren Möglichkeiten. Sie neigen auch als Erwachsene zu Unselbstständigkeit und Abhängigkeit, oder sie versuchen in übersteigerter Form möglichst viel Macht auszuüben und frei zu bleiben.
Das Bedürfnis nach Lustbefriedigung: Wir streben ständig danach, Lust zu gewinnen und Unlust zu vermeiden, also danach, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Überlebenswichtig ist es, dass der Mensch lernt, sein Lust- und Unlustempfinden zu regulieren. Die Stichworte heißen hier Frustrationstoleranz, Belohnungsaufschub und Triebverzicht. Wird das Kind in seinem Lustbedürfnis zu stark reglementiert, kann es genussfeindliche Normen und zwanghaftes Verhalten entwickeln. Wird das Kind zu sehr verwöhnt, kann es Schwierigkeiten bekommen, seine Gelüste zu bremsen. Die meisten Essstörungen haben hier ihre Ursache.
Das Bedürfnis nach Anerkennung: Eng mit unserem Bindungsbedürfnis hängt das angeborene Bedürfnis nach Anerkennung zusammen. Wir wollen das Gefühl haben, willkommen zu sein. Wenn die Mutter das Kind beim Wickeln anlächelt, dann ist dies für das Kind, als halte man ihm einen Spiegel vor, der ihm zeigt, dass sich seine Mutter über sein Dasein freut. Deshalb sprechen Forscher auch von einem gespiegelten Selbstwertempfinden. Werden Kinder in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung frustriert, haben sie ein labiles Selbstwertgefühl und sind abhängig von äußerer Anerkennung.
Die Schutzstrategien des Schattenkindes
Wird ein Kind in seinen Bedürfnissen frustriert, dann wird es Probleme mit seinem Selbstwertgefühl und seiner Bindungsfähigkeit haben. Um diese Unsicherheit und die schlechten Gefühle zu kompensieren, sucht es unbewusst nach einer Lösung beziehungsweise nach einer Schutzstrategie. Dieser Selbstschutz entsteht, indem man sich entweder auf die Seite der Autonomie, also der Unabhängigkeit, oder auf die Seite der Bindung, also der Abhängigkeit schlägt. Der grundsätzliche Mechanismus ist dabei die Verdrängung von unangenehmen Gefühlen oder bei schwerwiegenderen Erfahrungen wie Vergewaltigung und körperliche Gewalt eine Abspaltung oder Dissoziation. Mir persönlich hat die Selbsterkenntnis, welche Schutzstrategie – meistens sind es mehrere – ich verwende, sehr geholfen. Akzeptanz von dem, was ist, ist der wichtigste Schritt für Veränderung.
Kontaktvermeidung: Eine grundsätzliche Schutzstrategie ist die Vermeidung von emotionalem Kontakt sowohl nach innen zu den unangenehmen Gefühlen als auch nach außen zu den anderen Menschen. Es stehen fünf Strategien zur Kontaktvermeidung zur Verfügung: Die Projektion („Die anderen Menschen sind doof“), die Introjektion („Ich bin doof“), die Retroflektion („Ich fühle nichts“), die Deflektion („Ich muss mich ablenken“) und Konfluenz („Ich muss mich dir anpassen“).
Perfektion: Typischer Glaubenssatz: „Ich reiche nicht“. Diese Menschen sind in ihrem Selbstwert verunsichert, weil sie in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung frustriert wurden. Für Perfektionisten ist gut nicht gut genug. Sie sind nie zufrieden oder gar glücklich, Fehler machen angreifbar und müssen vermieden werden. Das Schattenkind wird beschützt, indem ich niemand eine Angriffsfläche zur Kritik biete. Erste Hilfe: Ich darf Fehler machen. Fehler machen mich symphatisch und ich lerne daraus.
Überanpassung: Typische Glaubenssätze: „Ich reiche nicht. Ich darf mich nicht wehren.“ Harmoniestreben geht oft einher mit Perfektionsstreben und einem ausgeprägten Helfersyndrom. Diese Menschen unterdrücken ihre eigenen Bedürfnisse oft so sehr, dass sie sie nicht einmal mehr wahrnehmen. Das Schattenkind wird beschützt, indem ich mich für andere aufopfere, um der Ablehnung zu entgehen. Das Paradoxe daran: Ich werde oft abgelehnt und verlassen, weil niemand weiß, woran er mit mir ist. Erste Hilfe: Ich darf sagen, wie es mir geht und was ich will, um für meine Mitmenschen sichtbarer zu werden.
Vermeidung: Typische Glaubenssätze: „Ich reiche nicht. Ich bin dir ausgeliefert.“ Diese Menschen wurden in ihrem Bedürfnis nach Autonomie und in ihrem Bedürfnis nach Bindung frustriert und reagieren darauf mit einem permanenten Flucht- oder sogar Totstellreflex. Wenn ich in der Kindheit zum Beispiel einer permanenten Bevormundung ausgesetzt bin, kann ich weder weglaufen noch mich wehren, sondern gehe innerlich aus dem Kontakt, um nicht mehr fühlen zu müssen. Das nennt man Dissoziation. Das Schattenkind wird beschützt, indem ich mich vor Überforderung durch Vermeidung, Rückzug und Flucht schütze. Erste Hilfe: Ich darf mich wehren, Grenzen setzen und meine Bedürfnisse vertreten.
Arbeit mit dem inneren Kind: Von den Schutz- zu den Schatzstrategien
Bei der Arbeit mit dem inneren Kind geht es darum, sich wieder mit allen seinen Emotionen, auch und gerade mit den unangenehmen, zu verbinden. Nach Stefanie Stahl geht es bei der Arbeit mit dem inneren Kind darum, „dass Schattenkind in uns zu trösten, damit es sich gesehen fühlt, sich beruhigen kann und genügend Raum für das Sonnenkind entsteht“. Kurz gesagt geht es darum, aus den früheren Schutzstrategien heutige Schatzstrategien zu machen. Traumatische Erlebnisse und dauerhaft zugefügte seelische Verletzungen während der Kindheit haben dafür gesorgt, dass unangenehme Gefühle wie Ärger, Zorn, Neid, Wut und Hass ins unbewusste Schattenkind abgespalten wurden. All diese unbewussten, unangenehmen, fiesen und gemeinen Eigenschaften, die von einem Körper- und Charakterpanzer bewacht werden, müssen zunächst akzeptiert und durchgearbeitet werden. Das ist leider mit jeder Menge intensiven Gefühlen von Wut, Trauer und Schmerz verbunden. Durch diese „Höhle des Löwen“, den „Engpass“, das „Tal des Todes“ muss jeder durch, der in Kontakt mit seiner Kraft und Lebendigkeit kommen will, die sich hinter den verdrängten Gefühlen verbergen.
Eine sehr gute Übung für alle, die die Integration von Schatten- und Sonnenkind ohne therapeutische Hilfe schaffen wollen, ist die Übung „Gehen entlang der 8“, die die amerikanische Psychologin Deborah Sunbeck entwickelt hat. Diese Übung bewirkt eine kinästhetische Integration der beiden Bewusstseinszustände von Sonnen- und Schattenkind. Ziel der Übung ist, dass wir das Schatten- und das Sonnenkind in uns annehmen und integrieren und noch einmal deutlich spüren, dass wir selbst die Wahl haben für den einen oder anderen Zustand. Wir schreiben dir dafür die negativen Glaubenssätze von unserem Schattenkind auf die eine Karte und die positiven Glaubenssätze unseres Sonnenkindes auf eine zweite Karte. Wir stellen uns in die Mitte einer vorgestellten „8“ und beginnen, diese abzulaufen. Immer wenn wir in der linken Hälfte der „8“ sind, lesen wir uns die positiven Glaubenssätze vor und immer, wenn wir in der rechten Hälfte sind, die negativen Glaubenssätze. Wir können uns die Glaubenssätze natürlich auch vorlesen lassen. Nachdem wir die „8“ zehnmal gegangen sind, halten wir inne und spüren nach, was sich verändert hat. Im besten Fall sind wir jetzt im wohlwollenden und besonnenen Erwachsenen-Ich, dass auf die Impulse des Schattenkindes angemessen und liebevoll reagieren kann.
Literaturtipps:
Stefanie Stahl: Das Kind in dir muss Heimat finden – der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme, 288 Seiten, Kailash 2015, 14,99 €
Kim-Anne Jannes: Das innere Kind umarmen – Die Kraft der Gefühle nutzen und Verhaltensmuster ändern, 222 Seiten, MensSana 2013, 9,99 €
Erika J. Chopich, Margaret Paul: Aussöhnung mit dem inneren Kind, 248 Seiten, Ullstein 1993 (27. Auflage), 9,95 €
Erika J. Chopich, Margaret Paul: Aussöhnung mit dem inneren Kind – das Arbeitsbuch, 200 Seiten, Ullstein 1993, 9,95 €
Quelle: https://www.sein.de/arbeit-mit-dem-inneren-kind-das-schatten-und-das-sonnenkind/
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Wie kann man sich die menschliche Psyche vorstellen? Die menschliche Psyche ist eine Blackbox, ein Mysterium, ein schwarzes Loch. Niemand hat die Psyche, die Seele, das Selbst, das Ich oder wie immer man es nennen will, je gesehen. Man kann die Psyche nicht vermessen, nicht unter dem Mikroskop beobachten und auch nicht nach dem Tod sezieren. Man kann die Psyche nur in ihren Auswirkungen auf das menschliche Verhalten, auf die Art zu Denken und zu Fühlen beobachten und dann seine Schlüsse daraus ziehen. Deshalb ist die Psychologie auch keine exakte Wissenschaft, sondern eine Wissenschaft, die ihre Hypothesen, Theorien und Modelle auf Erfahrungen aufbaut, die man aus Beobachtungen und dem inneren Erleben gewinnt.
Modelle unserer Persönlichkeit
Gerade weil die Psyche eine Blackbox ist und menschliche Verhaltensweisen und Gefühlsreaktionen oftmals rätselhaft und unverständlich erscheinen, gibt es seit Menschengedenken die Tendenz, Modelle der menschlichen Psyche zu entwickeln. Schon Hippokrates entwickelte um 400 v. Chr. die Viersäftelehre und der griechische Arzt Galenos von Perganon machte daraus um 200 n. Chr. eine Temperamentenlehre, indem er den vier Flüssigkeiten des Körpers – Blut, Schleim, schwarze und gelbe Gallenflüssigkeit – je ein Temperament zuordnete. Er war der Ansicht, dass sich je nach Vorherrschaft eines dieser vier Flüssigkeiten das damit verbundene Temperament besonders hervortrete. Er unterteilte die Menschen in heitere Sanguiniker, verdrängende Phlegmatiker, wütende Choleriker und traurige Melancholiker. Diese Unterteilung behielt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein seine Gültigkeit und hat in der Anthroposophie Rudolf Steiners bis heute seine Bedeutung.
Der erste Mensch, der für sich in Anspruch nahm, ein nach Maßstäben der empirischen Wissenschaft gültiges Strukturmodell der menschlichen Psyche gefunden zu haben, war Sigmund Freud, der Begründer der Psychoanalyse. Er unterteilte die Psyche am Anfang des 20. Jahrhunderts nach den Motiven seiner Handlungen in drei Teilbereiche: Im „Es“, „Über-Ich“ und „Ich“. Im „Es“ seien die Triebe, die Bedürfnisse und die Emotionen zu Hause. Im „Es“ siedelte Freud auch das Unbewusste an, das ja bekanntlich zu 90 Prozent unser menschliches Handeln bestimmt. Seitdem sind alle Psychotherapien darauf aus, soviel wie möglich aus dem Unbewussten ins Bewusstsein zu bringen, damit unsere unbewussten Muster uns nicht gänzlich bestimmen. Mit dem „Über-Ich“ bezeichnete Freud jene psychische Struktur, in der die aus der erzieherischen Umwelt verinnerlichten Handlungsnormen, Ich-Ideale, Rollen und Weltbilder gründen. „Ich“ bezeichnet jene psychische Strukturinstanz, die mittels des selbstkritischen Denkens vermittelt zwischen den Wert- und Normvorstellungen des Über-Ich und der sozialen Umwelt einerseits und den Bedürfnissen und Emotionen des nach dem Lustprinzip lebenden „Es“ andererseits, mit dem Ziel, psychische und soziale Konflikte konstruktiv aufzulösen.
Dieses dreigeteilte Modell hat sich mehr oder weniger bis heute gehalten und spielt bei der Arbeit mit dem inneren Kind eine wichtige Rolle. Die Diplom-Psychologin Stefanie Stahl kommt in ihrem sehr gelungenen Buch „Das Kind in dir muss Heimat finden“ auch auf drei Instanzen. Sie arbeitet mit drei Persönlichkeitsanteilen: Dem fröhlichen „Sonnenkind“, dem verletzten, traumatisierten, neurotischen „Schattenkind“ und dem inneren rationalen „Erwachsenen“. Das „Sonnenkind“ und das „Schattenkind“ entsprechen dem Freudschen unbewussten „Es“, wobei das „Sonnenkind“ für eine geglückte Sozialisation steht und das „Schattenkind“ für eine missglückte Sozialisation. Der innere Erwachsene entspricht dem „Ich“ bei Sigmund Freud.
Das Schatten- und das Sonnenkind
Welche Emotionen wir überhaupt in uns wahrnehmen, wie wir also fühlen und mit welchem Lebensgefühl wir in der Welt sind, hängt neben unseren angeborenen Fähigkeiten und Ressourcen von unseren Kindheitserfahrungen ab. Sind wir in unseren Bedürfnissen nach Verbundenheit, Autonomie, Lustbefriedigung und Anerkennung oft frustriert worden, haben wir viele Schutzstrategien und negative Glaubenssätze und einen Körper- und Charakterpanzer gebildet. Die daraus entstandenen seelischen Schmerzen, nicht wir selbst sein zu dürfen, wanderten ins unbewusste „Schattenkind“ ab und werden durch Trauer, Wut, Scham- und Schuldgefühle bewacht. Das Selbstwertgefühl ist im Schattenkind sehr fragil und das Vertrauen in die Verlässlichkeit von anderen Menschen mehr oder weniger erschüttert. Um diese belastenden Emotionen nicht zu fühlen, entwickelten wir einen Selbstschutz in Form von Strategien, auf die wir stolz sein können. Auf die gängigsten Schutzstrategien wie Rückzug, Perfektionsstreben oder Machtstreben werde ich später noch eingehen. Das „Sonnenkind“ steht für unsere positiven Prägungen und guten Emotionen wie Freude und Liebe. Hier vereinen sich alle Fähigkeiten und Ressourcen zu einem intakten Selbstwertgefühl und einem Urvertrauen, mit den Herausforderungen des Lebens fertig zu werden. Jeder Mensch hat je nach Veranlagung und Kindheitserfahrungen unterschiedlich ausgeprägte „Sonnen-“ und „Schattenkinder“ in sich, wobei es der Schattenkindanteil unserer Psyche ist, der uns immer wieder Probleme macht, zumal wenn er unbewusst und unreflektiert ist.
Wie entwickelt sich das innere Kind?
Als Babys sind wir eine lange Zeit nach der Geburt in einer vollkommen unterlegenen und abhängigen Lebenslage. Deswegen gibt es auch bei einer guten Kindheit Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht und einen Anteil, der Verletzungen davongetragen hat. Auch die liebevollsten Eltern können ihrem Kind nicht jedes Bedürfnis erfüllen, sie müssen das Kind begrenzen, sodass es Triebverzicht und Bedürfniskontrolle lernt. Vor allem das zweite Lebensjahr, dass durch Neugier und Erforschung der näheren Umgebung geprägt ist, ist durch viele Verbote und Begrenzungen seitens der Eltern bestimmt. Da alle Kinder nicht ausschließlich nur gute oder nur schlechte Erfahrungen mit ihren primären Bezugspersonen gemacht haben, gibt es in jedem Menschen ein Schatten- und ein Sonnenkind. Halten sich Angebote und Verbote durch feinfühliges Verhalten der Eltern die Waage, kann das Kind eine sichere Bindung und Selbstvertrauen in seine Fähigkeiten und Eigenschaften entwickeln.
Schwierig wird es nur, wenn die Eltern grundsätzlich überfordert sind mit ihren Kindern und sie entweder schlagen und anbrüllen oder vernachlässigen. Dann gibt sich das Kind die Schuld daran und denkt, es wäre falsch oder schlecht. Die ersten zwei Lebensjahre entscheiden darüber, ob ein Kind sich grundsätzlich willkommen fühlt auf dieser Welt oder nicht. Und wenn die Versorgung des Kleinkinds mit Füttern, Baden und Wickeln nicht durch Streicheln, liebevolle Blicke und eine angenehme Stimmlage geprägt ist, kann es statt des Urvertrauens zu einem Ur-Misstrauen kommen, dass sich – da außersprachlich – tief in das Körpergedächtnis einprägt und entsprechend großen Einfluss auf die spätere Lebensqualität und das Lebensgefühl hat. Dementsprechend schwer sind die späteren Störungen, was oft zu langwierigen Therapien führt, weil die Schutzstrategien stark ausgeprägt sind.
Die psychischen Grundbedürfnisse
Wenn ich von der Frustration der psychischen Grundbedürfnisse spreche, dann meine ich die vier psychischen Grundbedürfnisse nach Bindung, Autonomie, Lustbefriedigung bzw. Unlustvermeidung und Selbstwerterhöhung bzw. Anerkennung.
Wenn ich von der Frustration der psychischen Grundbedürfnisse spreche, dann meine ich die vier psychischen Grundbedürfnisse nach Bindung, Autonomie, Lustbefriedigung bzw. Unlustvermeidung und Selbstwerterhöhung bzw. Anerkennung.
Das Bedürfnis nach Bindung: Dieses Bedürfnis ist in der Bindungsforschung gut untersucht worden. Ohne Bindung, das heißt ohne Körperkontakt und körperliche Versorgung kann ein Säugling nicht überleben. Das kindliche Bedürfnis nach Bindung kann von den Eltern durch Vernachlässigung, Ablehnung oder Misshandlung frustriert werden. In den meisten Fällen ist die Bindungsfähigkeit des Kindes beeinträchtigt, wenn das Bedürfnis nicht ausreichend erfüllt wurde.
Das Bedürfnis nach Autonomie: Neben Kuscheln und Füttern will das Kleinkind auch seine Umgebung entdecken und erforschen, weil es neugierig ist und lernen will. Wird dieser angeborene Erkundungsdrang durch Überbehütung und starke Kontrolle frustriert, bekommen diese Kinder ein schlechtes Selbstwertgefühl und bleiben ihr Leben lang unter ihren Möglichkeiten. Sie neigen auch als Erwachsene zu Unselbstständigkeit und Abhängigkeit, oder sie versuchen in übersteigerter Form möglichst viel Macht auszuüben und frei zu bleiben.
Das Bedürfnis nach Lustbefriedigung: Wir streben ständig danach, Lust zu gewinnen und Unlust zu vermeiden, also danach, unsere Bedürfnisse zu befriedigen. Überlebenswichtig ist es, dass der Mensch lernt, sein Lust- und Unlustempfinden zu regulieren. Die Stichworte heißen hier Frustrationstoleranz, Belohnungsaufschub und Triebverzicht. Wird das Kind in seinem Lustbedürfnis zu stark reglementiert, kann es genussfeindliche Normen und zwanghaftes Verhalten entwickeln. Wird das Kind zu sehr verwöhnt, kann es Schwierigkeiten bekommen, seine Gelüste zu bremsen. Die meisten Essstörungen haben hier ihre Ursache.
Das Bedürfnis nach Anerkennung: Eng mit unserem Bindungsbedürfnis hängt das angeborene Bedürfnis nach Anerkennung zusammen. Wir wollen das Gefühl haben, willkommen zu sein. Wenn die Mutter das Kind beim Wickeln anlächelt, dann ist dies für das Kind, als halte man ihm einen Spiegel vor, der ihm zeigt, dass sich seine Mutter über sein Dasein freut. Deshalb sprechen Forscher auch von einem gespiegelten Selbstwertempfinden. Werden Kinder in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung frustriert, haben sie ein labiles Selbstwertgefühl und sind abhängig von äußerer Anerkennung.
Die Schutzstrategien des Schattenkindes
Wird ein Kind in seinen Bedürfnissen frustriert, dann wird es Probleme mit seinem Selbstwertgefühl und seiner Bindungsfähigkeit haben. Um diese Unsicherheit und die schlechten Gefühle zu kompensieren, sucht es unbewusst nach einer Lösung beziehungsweise nach einer Schutzstrategie. Dieser Selbstschutz entsteht, indem man sich entweder auf die Seite der Autonomie, also der Unabhängigkeit, oder auf die Seite der Bindung, also der Abhängigkeit schlägt. Der grundsätzliche Mechanismus ist dabei die Verdrängung von unangenehmen Gefühlen oder bei schwerwiegenderen Erfahrungen wie Vergewaltigung und körperliche Gewalt eine Abspaltung oder Dissoziation. Mir persönlich hat die Selbsterkenntnis, welche Schutzstrategie – meistens sind es mehrere – ich verwende, sehr geholfen. Akzeptanz von dem, was ist, ist der wichtigste Schritt für Veränderung.
Kontaktvermeidung: Eine grundsätzliche Schutzstrategie ist die Vermeidung von emotionalem Kontakt sowohl nach innen zu den unangenehmen Gefühlen als auch nach außen zu den anderen Menschen. Es stehen fünf Strategien zur Kontaktvermeidung zur Verfügung: Die Projektion („Die anderen Menschen sind doof“), die Introjektion („Ich bin doof“), die Retroflektion („Ich fühle nichts“), die Deflektion („Ich muss mich ablenken“) und Konfluenz („Ich muss mich dir anpassen“).
Perfektion: Typischer Glaubenssatz: „Ich reiche nicht“. Diese Menschen sind in ihrem Selbstwert verunsichert, weil sie in ihrem Bedürfnis nach Anerkennung frustriert wurden. Für Perfektionisten ist gut nicht gut genug. Sie sind nie zufrieden oder gar glücklich, Fehler machen angreifbar und müssen vermieden werden. Das Schattenkind wird beschützt, indem ich niemand eine Angriffsfläche zur Kritik biete. Erste Hilfe: Ich darf Fehler machen. Fehler machen mich symphatisch und ich lerne daraus.
Überanpassung: Typische Glaubenssätze: „Ich reiche nicht. Ich darf mich nicht wehren.“ Harmoniestreben geht oft einher mit Perfektionsstreben und einem ausgeprägten Helfersyndrom. Diese Menschen unterdrücken ihre eigenen Bedürfnisse oft so sehr, dass sie sie nicht einmal mehr wahrnehmen. Das Schattenkind wird beschützt, indem ich mich für andere aufopfere, um der Ablehnung zu entgehen. Das Paradoxe daran: Ich werde oft abgelehnt und verlassen, weil niemand weiß, woran er mit mir ist. Erste Hilfe: Ich darf sagen, wie es mir geht und was ich will, um für meine Mitmenschen sichtbarer zu werden.
Machtstreben: Typische Glaubenssätze: „Ich reiche nicht. Ich darf niemandem vertrauen“. Diese Menschen projizieren in ihre Mitmenschen eine potentielle Überlegenheit, der sie mit Auflehnung begegnen. Das Schattenkind wird beschützt, indem ich mich in eine überlegene und unabhängige Position begebe und die Situation kontrolliere. Benutzt werden zwei Strategien: Aktiver und passiver Widerstand. Beim aktiven Widerstand streite ich viel und beharre auf meinem Recht, beim passiven Widerstand verweigere ich mich indirekt durch größere und kleinere Sabotageakte. Erste Hilfe: Die Welt da draußen ist nicht so böse, wie ich denke. Ich kann mir und anderen mehr vertrauen und ihnen Wohlwollen und Empathie entgegen bringen.
Ich bleibe Kind: Typische Glaubenssätze: „Ich reiche nicht. Ich bin schwach.“ Das Schattenkind wird beschützt, indem ich mich klein und abhängig halte und die Vorstellungen der Eltern übernehme. Ich habe oft Schuldgefühle und rede mir die Dinge schön, um nicht handeln zu müssen. Erste Hilfe: Ich darf Fehler machen. Ich bin nicht auf der Welt, um die Erwartungen meiner Mitmenschen zu erfüllen. Ich darf mein Leben nach meinen eigenen Vorstellungen gestalten.
Vermeidung: Typische Glaubenssätze: „Ich reiche nicht. Ich bin dir ausgeliefert.“ Diese Menschen wurden in ihrem Bedürfnis nach Autonomie und in ihrem Bedürfnis nach Bindung frustriert und reagieren darauf mit einem permanenten Flucht- oder sogar Totstellreflex. Wenn ich in der Kindheit zum Beispiel einer permanenten Bevormundung ausgesetzt bin, kann ich weder weglaufen noch mich wehren, sondern gehe innerlich aus dem Kontakt, um nicht mehr fühlen zu müssen. Das nennt man Dissoziation. Das Schattenkind wird beschützt, indem ich mich vor Überforderung durch Vermeidung, Rückzug und Flucht schütze. Erste Hilfe: Ich darf mich wehren, Grenzen setzen und meine Bedürfnisse vertreten.
Sucht: Typische Glaubenssätze: „Ich reiche nicht. Ich bin dir ausgeliefert.“ Ein Spezialfall der Vermeidung ist die Flucht in die Sucht. Um emotionale Nähe zu vermeiden, werden Alkohol, Nikotin, Drogen, Tabletten oder Süßigkeiten konsumiert. Auch Kaufen, Arbeit, Spiel, Sex oder Sport können eine Fluchtmöglichkeit sein. Das Schattenkind wird beschützt, indem das Bedürfnis nach Lustbefriedigung erfüllt wird. Erste Hilfe: Mein Problem der mangelnden emotionalen Nähe wird durch die Befriedigung von Süchten nicht gelöst. Ich brauche liebevolle Zuwendung.
Narzissmus: Typische Glaubenssätze: „Ich darf nicht fühlen. Ich bin wertlos.“ Diese Menschen haben gelernt, ihr Schattenkind zu schützen, indem sie sich ein ideales zweites Selbst ohne Schwächen zugelegt haben. Narzissten kaschieren ihr schlechtes Selbstwertgefühl mir einer besonders glänzenden Fassade, hinter die niemand schauen darf. Erste Hilfe: Ich habe wie andere Menschen auch Schwächen und Stärken. Ich höre auf, gegen meine Schwächen anzukämpfen und akzeptiere sie.
Narzissmus: Typische Glaubenssätze: „Ich darf nicht fühlen. Ich bin wertlos.“ Diese Menschen haben gelernt, ihr Schattenkind zu schützen, indem sie sich ein ideales zweites Selbst ohne Schwächen zugelegt haben. Narzissten kaschieren ihr schlechtes Selbstwertgefühl mir einer besonders glänzenden Fassade, hinter die niemand schauen darf. Erste Hilfe: Ich habe wie andere Menschen auch Schwächen und Stärken. Ich höre auf, gegen meine Schwächen anzukämpfen und akzeptiere sie.
Arbeit mit dem inneren Kind: Von den Schutz- zu den Schatzstrategien
Bei der Arbeit mit dem inneren Kind geht es darum, sich wieder mit allen seinen Emotionen, auch und gerade mit den unangenehmen, zu verbinden. Nach Stefanie Stahl geht es bei der Arbeit mit dem inneren Kind darum, „dass Schattenkind in uns zu trösten, damit es sich gesehen fühlt, sich beruhigen kann und genügend Raum für das Sonnenkind entsteht“. Kurz gesagt geht es darum, aus den früheren Schutzstrategien heutige Schatzstrategien zu machen. Traumatische Erlebnisse und dauerhaft zugefügte seelische Verletzungen während der Kindheit haben dafür gesorgt, dass unangenehme Gefühle wie Ärger, Zorn, Neid, Wut und Hass ins unbewusste Schattenkind abgespalten wurden. All diese unbewussten, unangenehmen, fiesen und gemeinen Eigenschaften, die von einem Körper- und Charakterpanzer bewacht werden, müssen zunächst akzeptiert und durchgearbeitet werden. Das ist leider mit jeder Menge intensiven Gefühlen von Wut, Trauer und Schmerz verbunden. Durch diese „Höhle des Löwen“, den „Engpass“, das „Tal des Todes“ muss jeder durch, der in Kontakt mit seiner Kraft und Lebendigkeit kommen will, die sich hinter den verdrängten Gefühlen verbergen.
Eine sehr gute Übung für alle, die die Integration von Schatten- und Sonnenkind ohne therapeutische Hilfe schaffen wollen, ist die Übung „Gehen entlang der 8“, die die amerikanische Psychologin Deborah Sunbeck entwickelt hat. Diese Übung bewirkt eine kinästhetische Integration der beiden Bewusstseinszustände von Sonnen- und Schattenkind. Ziel der Übung ist, dass wir das Schatten- und das Sonnenkind in uns annehmen und integrieren und noch einmal deutlich spüren, dass wir selbst die Wahl haben für den einen oder anderen Zustand. Wir schreiben dir dafür die negativen Glaubenssätze von unserem Schattenkind auf die eine Karte und die positiven Glaubenssätze unseres Sonnenkindes auf eine zweite Karte. Wir stellen uns in die Mitte einer vorgestellten „8“ und beginnen, diese abzulaufen. Immer wenn wir in der linken Hälfte der „8“ sind, lesen wir uns die positiven Glaubenssätze vor und immer, wenn wir in der rechten Hälfte sind, die negativen Glaubenssätze. Wir können uns die Glaubenssätze natürlich auch vorlesen lassen. Nachdem wir die „8“ zehnmal gegangen sind, halten wir inne und spüren nach, was sich verändert hat. Im besten Fall sind wir jetzt im wohlwollenden und besonnenen Erwachsenen-Ich, dass auf die Impulse des Schattenkindes angemessen und liebevoll reagieren kann.
Stefanie Stahl: Das Kind in dir muss Heimat finden – der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme, 288 Seiten, Kailash 2015, 14,99 €
Kim-Anne Jannes: Das innere Kind umarmen – Die Kraft der Gefühle nutzen und Verhaltensmuster ändern, 222 Seiten, MensSana 2013, 9,99 €
Erika J. Chopich, Margaret Paul: Aussöhnung mit dem inneren Kind, 248 Seiten, Ullstein 1993 (27. Auflage), 9,95 €
Erika J. Chopich, Margaret Paul: Aussöhnung mit dem inneren Kind – das Arbeitsbuch, 200 Seiten, Ullstein 1993, 9,95 €
Quelle: https://www.sein.de/arbeit-mit-dem-inneren-kind-das-schatten-und-das-sonnenkind/
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