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2016-08-06

Taizé: Aus der Stille des Herzens lieben

von Oliver Bartsch für Sein.de



Frère Roger (1915–2005) gründete 1940 die erste ökumenische Ordensgemeinschaft der Kirchengeschichte im französischen Taizé. Heute gehören zur „Communauté de Taizé“ an die hundert Brüder aus über 25 Nationen. Jährlich bis zu 250.000 Jugendliche aus aller Welt besuchen den Ort, wo täglich praktische Nächstenliebe in Einfachheit, Barmherzigkeit und Freude gelebt wird.

Schon immer war ich ein Anhänger des transkonfessionellen Glaubens. Eines Glaubens, der den Weg zu Gott nicht von einer bestimmten Glaubensrichtung abhängig macht. Doch wo wird dieser direkte, einfache, von Herzen kommende Weg zu Gott praktiziert? In der evangelischen Kirche habe ich nicht den Weg zu Gott gefunden, auch nicht in irgendeiner anderen Religion, die mir alle zu verkopft, traditions- und sündenbeladen waren. Blieb mir nur die Esoterik, wo ich mir eine Patchwork-Religion zusammen zimmerte, die aber in mir keine wirkliche Verbundenheit mit Gott schuf. Ich hatte das Gefühl, dass ich im Herzen genauso zersplittert und innerlich zerrissen war wie die einzelnen Elemente der esoterischen Denkrichtungen, die ich mir im Lauf meines Lebens zugelegt hatte.

Ich war also auf der Suche nach innerem Frieden, innerem Gleichmut und Liebe, die mir in meinem Leben fast komplett abhanden gekommen waren. Eine ayurvedische Heilerin nahm während einer meditativen Heilsession bei mir „einen tiefen Schmerz und eine Resignation war, die aus einer großen Erschöpfung des Herzens resultiert“, weil ich immer wieder „mit dem Herz gegen die Wand“ gelaufen war. Ich hatte in den vergangenen zehn Jahren so viele enttäuschende Beziehungen erlebt, dass ich einfach nicht mehr an die Liebe geglaubt und mein Herz zugemacht hatte. Dann kam das Angebot eines Freundes, als Erwachsener eine Woche lang mit tausenden Jugendlichen in Taizé zu singen, zu beten und über den Glauben zu diskutieren.

In mir regte sich starker Widerstand. Wie sollte ich inmitten von tausenden lautstarken Jugendlichen den Frieden in meinem Herzen finden, eine Verbindung zu Gott spüren und meine Selbstliebe wieder entdecken? Mehr aus Verzweiflung und Alternativlosigkeit ließ ich mich darauf ein und sollte reich belohnt für meinen Mut zurückkehren, denn am Ende spürte ich, dass Gott mich liebt, dass es einen Ort auf der Welt gibt, wo man friedlich zusammenleben kann und wo es möglich ist, gebrochene Herzen mit der Liebe Gottes zu heilen.


Die Ankunft

Nach über 12-stündiger Anfahrt mit Bahn und Bus bekamen wir für eine Nacht eine provisorische Unterkunft in einer 6-Betten-Baracke im Erwachsenenlager. Mit leichten Panikattacken hatte ich die besonders anstrengende Busfahrt bei großer Hitze mit aufgedrehten Jugendlichen irgendwie überstanden und war gleichzeitig so überdreht, dass an Schlaf nicht zu denken war. Unsere dreiköpfige Erwachsenengruppe machte eine kleine Erkundungstour durch das große Gelände, das im Sommer Platz für bis zu 6000 Jugendliche bietet. Wir landeten schließlich in der Versöhnungskirche, die die ganze Nacht zum Singen, Beten und auch Schlafen geöffnet ist. Wir setzten uns auf den rustikalen Spannteppich und lauschten den Gesängen der verschiedenen Jugendgruppen, die mich sogleich beruhigten und runterkommen ließen.
Die Gesänge von Taizé

Taizé ist sehr bekannt für seine Gesänge. Es existieren an die 1000 Gesangstexte. Es sind meist einfache Texte in allen europäischen Sprachen oder auf Latein, die aus ein oder zwei Zeilen bestehen und sehr oft, gern auch als Kanon, wiederholt werden, sodass schnell eine meditative Trance entsteht. Sehr schnell konnte ich die Lieder mitsingen, zumal ich jeden Tag um 14 Uhr zum Probesingen in die Kirche ging, wo ich als Bass neben den Altstimmen saß, die mir mit ihren engelsgleichen Stimmen jedes Mal einen wohligen Schauer über den Rücken jagten. Oft begann ich während des Singens zu weinen, weil mich eine Melodie oder eine Textzeile direkt im Herzen berührten. Die Gesänge lösten in mir etwas ganz Ruhiges, Friedliches aus und berührten mich in den tiefsten Tiefen meines Herzens. 21 Mal (3 mal täglich) war ich während meines einwöchigen Aufenthalts in der Versöhnungskirche von Taizé, die bis zu 5000 Menschen Platz bietet, und habe nach dem Verlassen des Gottesdienstes die Lieder im Herzen weiter gesungen.

Im Gottesdienst, der dreimal täglich stattfindet, wird viel gesungen, wenig gebetet und kaum gepredigt. Da die meisten Jugendlichen und Erwachsenen einmal im Jahr für eine Woche nach Taizé kommen, wird das gesamte Kirchenjahr in einer Woche gefeiert. Es gibt also jede Woche einen Kreuzigungsgottesdienst und einen Auferstehungsgottesdienst, aber zum Beispiel keine Weihnachtsfeier, weil die Geburt Christi gegenüber den anderen christlichen Feiertagen nicht so bedeutend ist. Da fast alle Jugendlichen und Erwachsenen, die nach Taizé fahren, sehr gut singen können, finden die Gottesdienste mit einem 5.000-köpfigen Chor statt, teilweise vierstimmig aufgeteilt in Bass-, Alt-, Tenor- und Sopranstimmen: ein oft unvergesslich eindrückliches Erlebnis, dass bis heute nachhallt.


Die Gebete

In Taizé habe ich nicht nur Singen, sondern auch Beten gelernt. Boten mir die Lieder Schutz und Trost in schweren Stunden, so war das Beten eine ständige Verbindung zu Gott, als wenn ich zu Gott wie mit einem guten Freund spreche. Ich habe mein Leben lang darunter gelitten, dass Gott mir nie antwortete, wenn ich ihn um etwas bat. Wenn ich es recht bedenke, waren es meist keine richtigen Gebete, sondern Anklagen, die ich an Gott richtete, etwa nach dem Motto: „Warum verrätst du mir nicht die sechs Zahlen von der nächsten Lottoziehung, dann werde ich endlich reich und brauche mir um Geld keine Sorgen mehr machen.“

Als die rund 300 Erwachsenen in Diskussions-Gruppen aufgeteilt wurden, entschloss ich mich, in die Schweigegruppe zu gehen, denn ich hatte genug vom Reden und Diskutieren, dass mich eher von Gott entfernt statt Ihn mir näher gebracht hat. Außerdem, so meine Hoffnung, hatte ich nach einer Woche Schweigen vielleicht wieder Lust am Reden, das mir inzwischen völlig sinnlos vorkam und mit sehr viel Stress verbunden war. Unsere rund 30köpfige Gruppe nahm die Mahlzeiten und die Bibel-Instruktionen durch eine benachbarte Ordensschwester schweigend ein. Außerdem sollten wir uns zwei Stunden am Tag reservieren, wo wir ausgehend von der täglichen Bibelstelle in einen inneren Dialog mit Gott eintreten, um mit ihm zu reden wie mit einem guten Freund.

Schon am ersten Tag fing ich während der Bibel-Instruktion wie ein Schlosshund zu heulen an. Die Schwester sprach über Psalm 23 („Der Herr ist mein Hirte“), ein sehr tröstender Psalm, der meinem nach Gott dürstenden Herzen sehr zugute kam. Da wir uns auf die Bibelstellen konzentrieren sollten, die uns berühren, fiel mir gleich die Zeile „denn du bist bei mir“ auf. Da empfindet wohl jemand in höchster Not die unmittelbare Präsenz Gottes, das will ich auch, dachte ich neiderfüllt und legte mich meditierend im Garten der Stille an meine Lieblingsstelle unter einen Baum mit Blick auf den See, im Rücken das Plätschern des Wasserfalls. Ich las den Psalm wieder und wieder, mal laut, mal leise, und plötzlich brachen alle Dämme und wahre Sturzfluten von Tränen flossen aus meinen Augen. Ich weinte über mein gottverlassenes Leben voller Ängste, Zweifel und Sorgen. Ich weinte über die vielen Enttäuschungen in meinem Leben, die verpassten Chancen und Niederlagen, die ich erlitten hatte. Ich weinte über meine Hoffnungslosigkeit und meine Verzweiflung. Ich fühlte mich wie im Tal des Todes ohne Hoffnung, irgendeinen Ausgang zu finden, der mein zerbrochenes Herz wieder heil machen kann.

Dann las ich „Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser.“ Liege ich nicht auf einer grünen Wiese und habe einen Ruheplatz direkt am Wasser? Gibt mir das Wandern und Rasten in der Natur nicht immer Kraft und Ausgeglichenheit zurück? Dann las ich „Muss ich auch wandern in finstrer Schlucht, ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir.“ Mir fiel auf, dass ich mich seit geraumer Zeit nicht mehr beobachtet und angespannt, sondern angesichts der idyllischen Natur entspannt und fast schon geborgen fühlte. Ja, ich fühlte sogar eine angenehme Wärme und Behaglichkeit, als wenn ich schon immer unter diesem Baum meditiert hätte. Derartige Momente voller Selbstvergessenheit und meditativer Entspanntheit hatte ich seit meiner Kindheit nicht mehr genossen. Fühlt sich so die Gegenwart Gottes an? Noch war ich skeptisch und voller Unglauben, dass Gott an mir persönlich interessiert war.


Gott ist durstig nach dir

In den folgenden Tagen habe ich in der Stille viele inneren Stimmen gehört, die mich entweder beruhigten oder beunruhigten, die mich er- oder entmutigten, die mir vertraut vorkamen oder fremd. Meine inneren Ambivalenzen traten in doppelter und dreifacher Intensität auf. Mir fiel auf, dass ich immer das Gegenteil von dem wollte, was ich gerade hatte. War ich allein, wollte ich in Gesellschaft sein. War ich in Gesellschaft, wollte ich allein sein. War ich im Schweigen, wollte ich reden, habe ich geredet oder hat jemand mit mir geredet, bekam ich Stress und wollte schweigen. Außerdem fühlte ich mich schuldig, weil ich mich den Todsünden Wolllust, Gier, Völlerei und Trägheit hingegeben hatte. Ich hatte mir wolllüstig und gierig die schönen Mädchenkörper angeschaut, ich schlang maßlos das Essen in mich rein und ich lag oft stundenlang träge im Bett oder in der Natur herum.

Dann kam am 5. Tag während der Bibelinstruktion die Stelle, wo wir Psalm 63 besprachen, die Sehnsucht nach Gott: „Gott, du mein Gott, dich suche ich, meine Seele dürstet nach dir. Meine Seele hängt an dir, deine rechte Hand hält mich fest.“ Offenbar ist dort jemand genauso durstig nach Gott wie ich, und offenbar reicht Gott diesem Verzweifelten seine Hand, und dieser Verzweifelte spürt plötzlich, dass ihm der Glauben einen festen Halt gibt. Warum kann ich nicht glauben? Warum spricht Gott nicht zu mir?

Ein Satz aus Psalm 23 verfolgte mich die ganze Zeit in Taizé: „Er stillt mein Verlangen.“ Was für ein Verlangen habe ich denn, dass Gott stillen könnte, fragte ich mich. Die Antwort kam schnell: Meine Herzenswärme spüren und eine Frau treffen, die mich als Mann akzeptiert und die ich als Frau akzeptiere. Etwas verwundert schaute ich mich um. Wer hat denn da geantwortet? Es war weit und weit niemand zu sehen. War das etwa eine Antwort von Gott?

Das Wunder am letzten Tag

Am letzten Schweigetag erfuhr ich dann tatsächlich ein Wunder, denn alle meine Bedürfnisse sollten an diesem Tag erfüllt werden. Ich musste nur dem Weg meines Herzens folgen und mir klar machen, dass ich nicht tiefer fallen konnte als in Gottes Hand. Während der Schweigewoche war mir die ganze Zeit schon eine Frau aufgefallen, die ausgesprochen emotional war. Sie weinte oft während der Bibelinstruktionen, lachte dann wieder und hatte beim gemeinsamen Singen eine wunderschöne Stimme. Ich nahm auch eine große Herzenswärme bei ihr wahr und fühlte mich zu ihr hingezogen, war aber natürlich auch ambivalent mit ihr. Zusätzlich war ich eifersüchtig auf ihren männlichen Begleiter, einem rund 30-jährigen schönen, jungen Mann, der ihr nicht mehr von der Seite wich und gegen den ich mich chancenlos sah.

Während der letzten gemeinsamen Mahlzeit war von dem Schönling nichts mehr zu sehen. Alle anderen Mitglieder der Schweigegruppe waren schon gegangen, nur ich und meine Angebetete waren übrig geblieben. Sie weinte und las ein Buch. Ich hielt dies für eine Fügung des Schicksals, und in mir tobte ein innerer Kampf, ob ich endlich mal mutig sein und sie ansprechen oder abwarten sollte, bis sie mich anspricht. Plötzlich hörte ich eine innere Stimme, die sagte zu mir: „Gehe hin zu dieser Frau und frage sie, wie du ihr helfen kannst.“ Ich ging zu dieser Frau, fragte sie, wie ich ihr helfen könne und legte ihr dabei meine Hand in den Nacken. Deine Hand tut gut, sagte sie und dann erzählte sie mir ihr ganzes Leben und ich erzählte ihr mein ganzes Leben. Die letzten 24 Stunden in Taizé verbrachten wir gemeinsam, wir lachten, wir weinten, wir tanzten, wir sangen und wir schliefen zusammen. Sie sagte, ich wäre ein toller, warmherziger, sensibler, starker Mann, bei dem sie sich weiblich, sicher und geborgen fühlen würde, und ich sagte ihr, sie sei eine tolle, warmherzige, sensible Frau, bei der ich mich sehr männlich fühlen würde. Es waren die schönsten 24 Stunden meines Lebens.

Seitdem weiß ich: „Gott stillt mein Verlangen.“ Er liebt mich, egal ob ich im Zweifel bin oder den Süchten verfalle. Während im Menschen allerlei Licht- und Schattenseiten innere Kämpfe austragen, ist in Gott nur bedingungslose Liebe. Wir haben jeden Moment die Möglichkeit, uns für den Weg zu Gott oder den Weg zum Teufel zu entscheiden. Aber zuerst ist die Wahrheit und dann kommt der Zweifel. Zuerst ist das Wort Gottes und dann kommt der Teufel, um uns zu versuchen. Seitdem ich in diese bedingungslose Liebe zu Gott gefallen bin und mit Gott wie mit einem guten Freund rede, verspüre ich wieder die Lust am Reden, am Flirten und an meiner Männlichkeit.

Der ökumenische Männerorden

Im ökumenischen Männerorden leben zurzeit 100 Brüder aus 25 Nationen, die sich für ein eheloses Leben im Zeichen von Barmherzigkeit, Einfachheit und Freude entschieden haben. Die Herzenswärme der Brüder, die in jedem Gottesdienst in der Mitte der Versöhnungskirche sitzen, strahlt weit über den Gottesdienst hinaus. Frère Roger, der vor 75 Jahren den Orden gegründet hat, beschreibt das Anliegen des Ordens, dass auch heute noch Gültigkeit hat: „Jene Eingebung hat mich seit meiner Jugend wohl nie mehr verlassen: Ein Leben in Gemeinschaft kann ein Zeichen dafür sein, dass Gott Liebe und nur Liebe ist. Allmählich reifte in mir die Überzeugung, dass es darauf ankam, eine Gemeinschaft ins Leben zu rufen, eine Gemeinschaft von Männern, die entschlossen sind, ihr ganzes Leben zu geben, und die versuchen, sich stets zu verstehen und zu versöhnen. Eine Gemeinschaft, in der es im Letzten um die Güte des Herzens und die Einfachheit geht.“

Sein Nachfolger Frère Alois ergänzt: „Wir möchten, dass die Jugendlichen hier Vertrauen schöpfen. Ein Vertrauen, dass ihr Leben von Grund auf prägen kann, von dem aus sie sich öffnen und über sich hinauswachsen können.“

Zukunft liegt in gelebter Spiritualität

Wenn die einzig denkbare Zukunft eine gelebte Spiritualität jenseits von Religionen ist, dann ist Taizé der Ort, wo quantitativ (bis zu 250.000 Jugendliche pro Jahr) und qualitativ (aus einer tiefen Herzenswärme heraus) am meisten dafür getan wird. 

Die Gemeinschaft in Taizé bietet einen Ort, wo Spiritualität, also die Gegenwart Gottes, direkt erfahren werden kann. In der wahrhaftigen Selbsterforschung und im direkten Erfahren liegt die große Chance, dass unsere vereinsamten Herzen wieder mit Gottes Liebe verbunden werden und die frohe Botschaft verkündet werden kann: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen…Er stillt mein Verlangen….ich fürchte kein Unheil, denn du bist bei mir.“

Mehr Info's hier: http://www.taize.fr/de

Über den Autor: Oliver Bartsch ist Online-Journalist, Multimediaentwickler, Fachjournalist mit Schwerpunkt Psychologie, Komplementärmedizin, alternative Wohn- und Arbeitsformen, regenerative Energien, Klimawandel, Religion, Spiritualität, Philosophie, Gestalttherapeut im Praxis- und Supervisionsjahr

Quelle: https://www.sein.de/taize-aus-der-stille-des-herzens-lieben/

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