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2017-06-07

Eigene Währung, eigene Felder, eigenes Solarkraftwerk: Das Elsass-Dorf Ungersheim




Eigene Währung, eigene Felder, eigenes Solarkraftwerk: Das Elsass-Dorf Ungersheim versorgt sich nahezu komplett selbst. Auch größere Städte wollen sich zu nachhaltigen, sogenannten Transition Towns entwickeln. Ist das in Zeiten der Globalisierung überhaupt möglich?

Wenn in Ungersheim die Sonne scheint, dann strahlt auch Jean-Claude Mensch. "An solchen Tagen können wir unseren Energiebedarf zu hundert Prozent decken", sagt der Bürgermeister des kleinen Dorfes im Elsass, das über ein eigenes kommunales Solarkraftwerk verfügt. Mensch macht das stolz, denn der 71-Jährige hat geschafft, wovon andere Stadtoberhäupter höchstens träumen: Ungersheim ist nahezu energieautark. Während nur 20 Kilometer entfernt das marode Atomkraftwerk Fessenheim für Aufregung sorgt, hat Mensch ein reines Gewissen. "Wir sind eine der wenigen Kommunen, die sich gegen Fessenheim aussprechen", sagt er. "Aber wir meckern nicht nur. Wir tun etwas."

Im Jahre 2011 hat sich Ungersheim zum Transition Town erklärt. Die europaweit aktive Bewegung will in teilnehmenden Städten ein nachhaltiges Wirtschaftssystem aufbauen. Oder um es mit den Worten von Jean-Claude Mensch zu formulieren: "Wir versuchen uns aus den Zwängen des Kapitalismus zu befreien." Trotz solcher markigen Sätze sieht Ungersheim nicht gerade aus wie ein Ort, in dem die Revolution tobt. Eher wie eines von vielen Dörfern im Elsass, die sich nach und nach von ihrer historischen Bausubstanz verabschieden. Die Kirche steht noch, aber fast überall ragen moderne, rote Dächer in den Himmel. In der Ferne brummt ein Traktor auf dem Acker. Ansonsten: gähnende Leere.

Pferde-Fuhrwerk statt Schulbus

Doch auf dem Weg zum nachhaltig autarken Dorf hat Ungersheim schon viel erreicht. Der Schulbus: durch ein Pferde-Fuhrwerk ersetzt, die Straßenlaternen: auf energiesparende LEDs umgerüstet, Pestizide: aus der Landwirtschaft verbannt. Die neun jüngsten Wohnhäuser wurden im Niedrigenergie-Stil gebaut, öffentliche Gebäude mit Energieausweisen versehen, in der Schulkantine kommt Gemüse von den umliegenden Feldern auf den Tisch.

Wenn Jean-Claude Mensch von all diesen Projekten erzählt, sprüht er vor Energie. Er sei schon immer sehr links und grün gewesen, erzählt der 71-Jährige. Als er 1989 erstmals zum Bürgermeister gewählt wurde, galten viele seiner Ideen als utopisch. "Am Anfang musste ich kämpfen", erzählt Mensch, und auch heute teilt längst nicht jeder im Dorf seine Ideen. Doch die Mehrheit der Ungersheimer scheint einverstanden mit dem Transition-Town-Modell: Jean-Claude Mensch wurde immer wieder im Amt bestätigt.

Sein neuestes Projekt ist in der Bevölkerung trotzdem noch kein Renner: Seit 2013 gibt es in Ungersheim den "Radis" (Rettich), eine eigene lokale Währung. Die Scheine zeigen die Silhouette von Ungersheim und sind laut Mensch genauso viel Wert wie ihre Euro-Pendants. "Etwa zehn Prozent unserer Händler nutzen den Radis", sagt der Bürgermeister. "Das könnten schon noch etwas mehr werden. Aber bei solchen Projekten dauert es eben eine Weile, bis sie sich entwickeln."


Lokales Gemüse für die Ungersheimer Schulkantine. Fotos: Przybilla

Nationalistischer Populismus? "Mais Non!"

Warum aber braucht ein Ort von nicht einmal 2500 Einwohnern eine eigene Währung? "Um Anreize zu schaffen", sagt Mensch. "Bevor sich die Leute ins Auto setzen und in einen Supermarkt fahren, der zu einem Großkonzern gehört, sollten sie lieber ihr Geld vor Ort ausgeben." Auf diese Weise könne irgendwann ein "geschlossener Kreislauf" entstehen. Ist der Bürgermeister naiv, wenn er an solche Ziele glaubt? Surft er auf der gleichen Populismus-Welle wie der amerikanische Präsident Trump, der seine Wirtschaft vor ausländischer Konkurrenz abschotten möchte? "Mais non!", antwortet Mensch entschieden. "Wir wollen uns doch nicht verschließen, sondern ein neues Gesellschaftsmodell ausprobieren. Und dafür ist unsere Größe genau richtig"

Ähnlich sieht es der Nachhaltigkeitsforscher Matthias Wanner vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie. Bis vor drei Jahren hat er Transition-Initiativen als Trainer beraten, von 2013 bis 2016 arbeitete er als Referent im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung. "Transition Towns wollen keine Abschottung, sondern eine stärkere Regionalisierung", erklärt er. "Sie setzen sich für Nachhaltigkeit zunächst einmal vor der eigenen Haustür ein und versuchen, die großen Probleme durch einen kulturellen Wandel zu lösen: weniger Strom und Wasser verbrauchen, sparsamer mit Ressourcen umgehen, Geräte auch mal reparieren. Das kann durchaus global positive Folgen haben."



Neu und nachhaltig: Niedrigenergiehäuser in Ungersheim.

Nachhaltige Dörfer sind das eine. Aber lässt sich die Idee der Transition Towns auch auf größere Städte übertragen? Könnten sich Mulhouse oder Straßburg auch selbst versorgen? Woher käme die Energie und die Nahrung? Könnte man Landwirten überhaupt vorschreiben, an wen sie ihre Ware verkaufen? Jean-Claude Mensch muss nicht lange überlegen, um diese Fragen zu beantworten. Er hat sie schon oft gehört. "Natürlich müsste man das Modell anpassen", sagt er, "auch wir haben schließlich längst nicht alles geschafft, sondern sind nur auf dem Weg zum Ziel." Dann lacht er, weil ihm noch ein anderer Gedanke zur Selbstversorgung kommt: "Komplette Autarkie ist schwierig. Die Leute wollen doch auch mal Reis essen – und ich sehe hier nirgendwo ein Reisfeld."

Mit solchen Hürden müssen sich auch die deutschen Transition-Gruppen auseinandersetzen. Auch hierzulande wollen sich zahlreiche Menschen vom globalen Kapitalismus lösen. Die Schwerpunkte unterscheiden sich je nach Region stark: Manche Gruppen konzentrieren sich auf Energiepolitik, andere auf Landwirtschaft oder alternative Wohnprojekte. Dass sich eine Stadt selbst als Transition Town bezeichnet und der Bürgermeister diese Politik aktiv vorantreibt, bleibt jedoch die Ausnahme.

Auch Freiburg soll Transition Town werden

"Je kleiner das Dorf ist, desto leichter gelingt der Wandel", meint Hannes Steinhilber, Gründer und Vorstandsmitglied von "Transition Town Freiburg". In Freiburg konzentrieren sich die Aktivisten hauptsächlich aufs gemeinschaftliche Gärtnern. Zudem organisieren die Mitglieder ein monatliches Repair Café, in dem defekte Geräte repariert werden. "Wir arbeiten gut mit dem Garten- und Tiefbauamt zusammen", sagt der 25-Jährige. "Zum Beispiel bei der Entwicklung der neuen Strategie für Grünflächen und Schrebergärten." Der große politische Wurf wie in Ungersheim? Klingt anders.

Vorwerfen kann man den Freiburger Aktivisten aber nichts, denn sie leiden gewissermaßen unter einem Luxusproblem: Die Stadt ist bereits stark ökologisch ausgerichtet. "Seit über 30 Jahren passiert hier sehr viel", sagt Steinhilber, "und die Freiburger identifizieren sich sehr stark mit ihren eigenen Projekten." Lokale Währung, C02-Einspar-Versuche, Green-City-Initiativen – all das gibt es bereits, aber es ist schwer zu koordinieren. Zumal die Transition-Town-Initiative in Freiburg erst seit 2011 existiert. "Im Bereich Energie sind wir zum Beispiel nur sehr wenig aktiv, weil es schon viele andere Initiativen gibt", erklärt Steinhilber.

Für Wanner ist die größte Hürde bei der Umsetzung von Transition Towns, über das Anfangsstadium hinauszukommen. "Die Initiativen müssen sich darüber im Klaren werden, welche Themen sie bearbeiten wollen und dazu auf eine gute Gruppendynamik achten – also eine Mischung aus Professionalität und Lockerheit. Zum Glück gibt es gute Leitfäden, die sich neue Gruppen im Internet anschauen können."

Die weiteren Pläne für Freiburg? "Auch mal Getreide anbauen", sagt Steinhilber. Darüber hinaus arbeite die Gruppe an einer Online-Plattform, in der die Aktivitäten der verschiedenen Initiativen zusammengetragen werden. In Ungersheim wiederum plant Jean-Claude Mensch neue Wege der Vermarktung: Demnächst soll in seinem Dorf ein Hofladen entstehen, in dem Touristen lokale Produkte kaufen. Und Bier. Doch damit dauert es noch ein wenig – das Malz muss zunächst einmal wachsen.

Quelle: https://www.kontextwochenzeitung.de/wirtschaft/322/aus-eigener-kraft-4399.html

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