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2018-12-20

Geschichten frei erfunden: „Spiegel“ erlebt mit dem Fall Relotius den Super-GAU für Qualitätsmedien


„Sagen, was ist“ – Ein argwöhnischer Kollege weist Claas Relotius, einem mehrfach preisgekrönten Nachwuchsjournalisten des „Spiegel“, nach, eine Reihe von Geschichten frei erfunden zu haben. Der Journalist hatte sogar angesehene Preise gewonnen.


Aufrüttelnde Storys über einen Jungen, der angeblich den Bürgerkrieg in Syrien auslöste. Pathetische Apologien, die einen Abtreibungsarzt als bewundernswerten Helden verkaufen. Geschichten über Bürgerwehrangehörige oder freiwillige Hinrichtungszeuginnen, die Deutschen, die sich dem moralisch Guten verpflichtet wissen, in ihrem Überlegenheitsgefühl gegenüber unaufgeklärten und fundamentalistischen amerikanischen Hillbillys bestärken. Und die Reportage aus der Gemeinde Fergus Falls in Minnesota, wo 70 Prozent Donald Trump gewählt hatten, der City Administrator in seine Waffen verliebt sei und ein ausgestopftes Wildschwein die Amtsräumlichkeiten ziere.

Das alles war die Welt des 33-jährigen Claas Relotius. Er hat in sieben Jahren Dutzende Originaltexte für den „Spiegel“ verfasst, dazu noch welche in Formaten wie „Cicero“, der „taz“, der „Neuen Zürcher Zeitung“, der FAZ und nach eigenen Angaben auch im „Guardian“ – wofür der „Spiegel“ keine Belege finde, was aber auch wenig an der Gesamtsituation ändern würde.

CNN ehrte ihn als „Journalist of the Year“

Vier deutsche Reporterpreise soll er bekommen haben, den Peter Scholl-Latour-Preis, den Konrad-Duden-, den Kindernothilfe-, den Katholischen und den Coburger Medienpreis. CNN hat ihn zum „Journalist of the Year“ gekürt. Der Reemtsma Liberty Award ziert ebenso seine Vitrine wie der European Press Prize. Der „Spiegel“ fragt sich nun, „wie er die Elogen der Laudatoren ertragen konnte, ohne vor Scham aus dem Saal zu laufen“. Hunderttausende Leser, die sich im Laufe der vorangegangenen Jahre von den Mainstreammedien verabschiedet hatten, möglicherweise weniger.

Dass der „Spiegel“ sich nun selbst eingestehen muss, dass der gefeierte Kollege – wie er am Ende selbst einräumte – Namen, Örtlichkeiten, Personen und sogar ganze Geschichten frei erfunden habe, ist für den stolzen und von sich selbst und der eigenen Mission so überzeugten deutschen Qualitätsjournalismus ein Super-GAU. Für all jene, die bereits seit Jahren dessen Selbstbild hinterfragen, dürfte es hingegen keine große Überraschung sein.

Zu Fall gebracht hat ihn ausgerechnet sein Kollege Juan Moreno, der als Co-Autor an der Reportage „Jaegers Grenze“ mitgewirkt hatte, die US-amerikanische Bürgerwehren auf der Jagd nach illegalen Grenzgängern dargestellt haben will – und dabei offenbar nicht einmal mit deren Pressesprecherin geredet hat.

Welchen Hintergrund der Eifer tatsächlich haben mag, der Moreno dazu trieb, unter den argwöhnischen Blicken anderer Mitarbeiter auf eigene Kosten über den Kollegen zu recherchieren: Ihn präsentiert der „Spiegel“ nun jedenfalls als den strahlenden Helden, der alles aufs Spiel gesetzt habe, um die Wahrheit zutage zu fördern. Und auf diese Weise gelang es dem Blatt doch noch, einen Narrativ zu kreieren, der den Ruf der sogenannten deutschen Leitmedien retten soll.

Angst vor Jubel bei Pegida und in „St. Petersburger Trollfabriken“

Das künftige Mitglied der Chefredaktion Ullrich Fichtner gibt sich zerknirscht:

„Diese Enthüllung, die einer Selbstanzeige gleichkommt, ist für den Spiegel, für seine Redaktion, seine Dokumentationsabteilung, seinen Verlag, sie ist für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ein Schock. Die Kolleginnen und Kollegen sind tief erschüttert. […] Die selbst gesteckten Ziele wurden verfehlt, eigene Ansprüche weit unterboten, alte Werte verletzt, wie oft genau und in welchen Weisen, wird noch zu ermitteln sein.“

Nun wolle man eine Kommission aus internen und externen Experten einsetzen, „um die Vorgänge aufzuklären und um Wiederholungsfälle zu vermeiden“.

Man habe nicht damit gerechnet, dass ein Kollege vorsätzlich betrüge. Die Regel sei „das redliche Bemühen um Wahrheit und Wahrhaftigkeit“.

Auf Twitter stellen sich derweil ähnliche Reaktionen ein, wie man sie bei etablierten Politikern und Medien regelmäßig auch nach islamistischen Terroranschlägen oder brutalen Verbrechen illegaler Einwanderer erlebt: Wenig Empathie für diejenigen, die die Zeche bezahlen, keine grundsätzliche Hinterfragung des eigenen Selbstverständnisses, stattdessen Warnungen davor, dass die „Falschen“ davon profitieren könnten.

So meint Joël Grandke:

„Ohne es kleinreden zu wollen: Das Schlimmste am #Relotius-#Spiegel-Betrug ist, dass er eimerweise Wasser auf die Mühlen derer bedeutet, die hasserfüllt ‚Lügenpresse‘ krakeelen und sich in ihren Online-Filterblasen gegenseitig applaudieren, dass sie es schon immer gewusst hätten.“

„Wer verkauft die Buch- und Filmrechte?“

Hansjörg Berrisch sieht den „Spiegel“ sogar gestärkt aus der Affäre hervorgehen:

„Nachträglich zwei Journalistenpreise für 2018

Mutigster Journalist Juan #Moreno

Transparenzpreis @UllrichFichtner #Relotius“

Demgegenüber reagiert „Helmi“ – offenbar in Gedanken noch bei der Persiflage „Schtonk“ auf des „Sterns“ gefälschte Hitler-Tagebücher – sarkastisch:

„Nach dem halben Artikel frage ich mich wer wem eigentlich für wie viel Geld die Buch- und Filmrechte verkauft. #Relotius“

Für Relotius dürfte das Kapitel „Qualitätsjournalismus“ unterdessen vorbei sein. Er hat dem „Spiegel“ zufolge sein Büro am Sonntag ausgeräumt und seinen Vertrag am Montag gekündigt. Sollte er zusätzlich zu der Aversion gegen das ländliche, konservative Amerika, das aus seinen Artikeln über die USA sprach, noch ein Herz für die Israelkritik entdecken, könnte er für Sender wie RT, TRT World oder Al-Jazeera interessant werden. Andererseits könnte ihn sein weiterer Weg in Anbetracht seiner ausgeprägten Fantasie auch in die Belletristik oder das Ghostwriting führen.

Für erdachte oder reale Storys über deutschen Rassismus gegen Fußball-Millionäre, Angela Merkel, die syrischen Kindern im Traum erscheint, oder das rückständige Trump-Amerika findet sich beim „Spiegel“ voraussichtlich zeitnah Ersatz.

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