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2022-02-25

Respekt – Grenzen und Verantwortung



Wie im Außen so im Innen. Wie in der Natur, so auch in mir. Respekt ist keine Einbahnstraße…

von Claudia Doerks

Der Sturm tobt

Zufällig tobt gerade ein Sturm und die Natur wird durchgeschüttelt und -gerüttelt. Alte, tote Äste und lose Ziegel fallen runter und ein bereits maroder Pfeiler kippt plötzlich einfach um. Es ist laut und irgendwie beängstigend und erschüttert mich bis in die Knochen. Was ist nur los in unserer Welt? Es scheint nicht mehr ruhig werden zu wollen. So, wie in der Natur der Sturm wütet und keine Ruhe zulässt, so sieht es auch in mir aus. Ich fühle mich hilflos und ausgeliefert. Dabei habe ich doch schon so viel getan. Die Familienthemen aufgearbeitet, die Perspektiven und das Denken geändert, Seminare zur Selbstverwirklichung besucht und schließlich Qigong für mich als Lebensphilosophie entdeckt. Nun wähnte ich mich in scheinbarer Sicherheit und gewappnet gegenüber den Stürmen der Zeit. Mit festen Wurzeln, einem starken und soliden Stamm, schwungvollen Ästen. Ästen, die zugleich stabil, aber auch flexibel sind, um die Stürme im Außen gezielt vorbeiziehen zu lassen. Und die voller frei tanzender Blätter sind – die vielen wunderbaren Ideen in meinem Kopf.

Zuerst war es daher noch leicht, dem äußeren und inneren Toben mit Optimismus und Harmonie zu begegnen. Die Werte, die mich tragen und mir helfen, respektvoll, achtsam und eigenverantwortlich zu sein, konnten mich wunderbar unterstützen. Warum tun sie es nicht mehr?

Umgang mit Konflikten

Einer der großen Leitsätze, die ich verinnerlicht habe, lautet: „Was du säst, wirst du ernten.“ Mir ist also klar: Wenn ich Rosen ernten will, dann muss ich sie auch säen. Seit den vergangenen zwei Jahren wurde das allerdings zu einer mächtigen Herausforderung. Jetzt verstehe ich zwar die wahre Tiefe dieser Worte besser, aber anscheinend immer noch nicht ganz. Wie soll ich Liebe und Mitgefühl säen, wenn mir im Außen doch der Regen und Wind ins Gesicht peitscht und ich mich völlig überfordert fühle? Ich stehe hilflos da, wenn ich mich beispielsweise aufgrund von 2-G-Regeln als ausgeschlossen wahrnehme und spüren kann, wie die Intimität und persönlichen Grenzen meiner Kinder maßlos überschritten werden – und meine Worte diesbezüglich keiner hören will. Mir blutet das Herz, wenn meine Kinder nach Hause kommen und zum wiederholten Male sagen: „Mama, die Lehrer schreien oft. Das tut mir weh. Ich soll die Maske ordentlich tragen. Doch ich habe keine Luft mehr bekommen.“ Gespräche über Möglichkeiten, wie für alle gut gesorgt werden könnte, scheitern irgendwann an den Worten: „Es gibt Regeln, die wir zu befolgen haben.“ In mir gefriert alles und da ist nichts mehr von den Werten spürbar, die mich tragen sollten. Ich ringe nach Fassung ob dieses Dilemmas: Einerseits möchte ich gern dazugehören, doch andererseits habe ich meine persönlichen Grenzen – aus meiner Sicht eine Notwendigkeit, um mich selbst zu fühlen und meinem Selbst (meinem Herzen) zu folgen. Wie also vermittle ich klar meine Grenzen, um meine Intimität und die meiner Kinder zu wahren, ohne respektlos und ohne Mitgefühl zu sein bei so viel Gegenwind und Kälte?

Der Kreislauf

Ich spüre Abwehr und Schmerz in mir und weiß, dass ich davor nicht mehr weglaufen kann. Dieser Schmerz hat nicht nur einen Jetztbezug. Nein, er geht tiefer zurück. Weil ich anders war, gehörte ich nicht dazu. Weil ich einen bestimmten Vater habe, konnte aus mir ja nichts werden. Ich sehe mich jetzt noch als 6-Jährige – ich war voller Vorfreude auf die Schule – vor meinem Lehrer stehend. Ich schaute zu ihm auf mit strahlenden Augen. Ich war begeistert von den neuen Möglichkeiten. Ich hatte das Gefühl, jetzt steht mir die ganze Welt offen. Doch noch bevor alles beginnen sollte, höre ich die zerschmetternden Worte und das Lachen: „Du solltest lieber auf die Hilfsschule gehen, bei dem Vater.“ Ich wusste das gar nicht einzuordnen, denn damals wie auch heute kannte ich meinen Vater als einen sehr hilfsbereiten, liebevollen und kreativen Mann. Der immer sagt: „‘Geht nicht’ gibt’s nicht. Es ist alles möglich.“ Selbst jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, muss ich weinen. Ich kehre zurück zum Ursprung meines Leides. Mir kommt der Gedanke, dass diese Zeit mit ihrem ganzen Druck und ihrer immer wieder erlebten Lieblosigkeit jetzt genau die richtige ist, um meine Verletzlichkeit, meinen Wunsch dazuzugehören, auf einer noch tieferen Ebene zu verstehen und zu heilen. Es geht darum, mir meine Selbstverleugnung anzuschauen, für die ich den Preis reduzierter Lebendigkeit bezahlt habe. Meine Anpassung an die Vorstellungen und Vorgaben anderer bezüglich dessen, was richtig und gut ist. Ja, meine Werte geraten unter Druck, weil sie jetzt noch einmal neu auf den Prüfstand stehen. Und ich gerate unter Druck, weil ich mein Verhalten an den künstlichen Vorstellungen anderer ausgerichtet habe und nicht an meiner inneren Natur. Doch die Natur ist alles, Erblühen wie Verfall. Es geht nicht darum, alles „perfekt“ und „richtig“ zu machen, sondern mit den Angeboten des Lebens mitzufließen. Ja, das fühlt sich wirklich gut an! Wirklich leben Ich spüre in mir, dass ich endlich ehrlich und wahrhaftig sein möchte.

Wirklich leben

Interessanterweise fällt mir dabei auf, dass Leben rückwärts das Wort „Nebel“ ergibt. Ist das ein Zufall? Ist es möglich, dass wir den Nebel in unserem Leben lichten sollen, um uns selbst zu sehen, zu fühlen und zu lieben? Eine Art Rückkehr zu uns selbst. Tut dies das Universum vielleicht sogar selbst? Sich selbst entfalten in jedem Korn und Samen, in jedem Tier und jedem Menschen, um sich selbst zu erfahren und zu erkennen – und das immer wieder neu? Ja, ich finde nicht immer die passenden Worte und auch nicht immer einen liebevollen Ton – gegenüber anderen wie auch zu mir selbst. Hat mich deswegen der Himmel, die Erde und das Universum weniger gern? Was ist, wenn es (das Universum) sich dadurch erst selbst erfährt?

Viel wahrscheinlicher als eine Ablehnung durch das Universum ist es, dass ich mich selbst für meine Lieblosigkeiten „bewerte“ und eine unsichtbare Mauer um mich baue, die dann meist unbewusst zu Konflikten führt. Wenn ich bereit bin, diese Wertigkeit loszulassen wie ein Baum einen alten, morschen Ast, dann schaffe ich es, mein Bewusst-Sein für die Welt, die Menschen und mich selbst zu erweitern. Ich kann dann meine vorherige Starrheit verlassen, und daraus entstehen Weite und Lebendigkeit. Das geht nur, wenn ich mich dem Sturm stelle und ihn in mir zur Ruhe bringe. Dazu ziehe ich mich zurück, nehme die Energie zu mir selbst zurück, fühle das ganze Gefühlswirrwarr. Nach einiger Zeit wird es ruhiger in mir.

Plötzlich tauchen die Worte auf, die ich in den schwierigen „Corona- Gesprächen“ (und letztlich auch schon in anderer Form als Kind) so dringend gesucht habe: „Ich sehe, dass es für dich wichtig ist, die Regeln ernst zu nehmen und zu beachten. Dass du nur das Beste willst und für dich sorgst. Ich fühle auch, dass es nicht leicht ist, meine Gedanken und Handlungen zu verstehen, da sie durchaus gegensätzlich sein können. Das ist auch für mich nicht leicht. Dennoch wünsche ich mir, dass wir einander respektvoll begegnen und auf Augenhöhe. Ich bin mir sicher, wir finden einen Weg, bei dem alle Seiten zufrieden sind.“

Das Leben fließen lassen

Die Natur lässt alte Äste, Blätter und Früchte fallen, da sie innerlich weiß, dass daraus neues Leben erwacht. Sie geht nicht in den Kampf mit dem Sturm, dem Wind, der Hitze und der Kälte. Sie ist mit allen Widersprüchen in Ein-Klang und erfüllt ihren Sinn im Kreislauf. Wachsen, blühen, Früchte tragen und sie fallen lassen, damit das Leben von Neuem beginnt. Jedes Mal besonders, einzigartig, großartig, wunderschön und anders. Es können neue Äste wachsen, die der Zeit an sich, des Menschseins und der Welt würdig sind. Die Tatsache anzunehmen, dass alles im Wandel und ein Kreislauf ist, führt zu neuen Früchten. Das Schöne: Wenn wir uns dem Leben tatsächlich hingeben und es fließen lassen – eben auch all die Herausforderungen, die mit Corona einhergehen als Entwicklungschance begreifen und nicht in einen energieraubenden Widerstand gehen – , kann der Wandel, den wir oftmals fürchten, wunderbare neue Früchte tragen und uns von Grund auf zu der Version unseres Selbst verändern, die wir hinter allen Verdrehungen und Verbiegungen bereits sind.

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