ENTMENSCHLICHUNG geschieht heute nur selten durch offene Gewalt. Sie vollzieht sich viel häufiger leise, durch Abstraktion. Der Mensch wird dabei nicht angegriffen, sondern degradiert: auf eine Funktion, einen Datensatz, ein Nutzerprofil, auf Produktivität, eine Diagnose oder eine Zielgruppe.
Das geschieht anfangs nicht aus Böswilligkeit, sondern folgt der Logik komplexer Systeme. Je komplexer diese Systeme werden, desto weniger Raum bleibt für gelebte, verkörperte Erfahrung.
In genau diesem Kontext wird ERINNERUNG zu einer Form des Widerstands. Nicht Erinnerung im Sinne von Nostalgie oder am Alten festhaltend, sondern als Verankerung, als Rückhalt. Erinnerung widerspricht der Austauschbarkeit, der Beschleunigung und der Kontextlosigkeit, die moderne Systeme benötigen, um reibungslos zu funktionieren. Ein Mensch, der sich erinnert, sagt – oft ohne Worte:
Ich bin mehr als das, was jetzt von mir verlangt wird.
Schon das ist ein Akt des Widerstands. Dabei ist entscheidend, welche Art von Erinnerung gemeint ist. Es gibt eine Erinnerung, die archiviert wird: Daten, Fakten, Chronologien, Speicher. Diese Form ist leicht manipulierbar und weitgehend vom Körper entkoppelt. Und es gibt eine andere Erinnerung – eine VERKÖRPERTE. Sie lebt in Ritualen, Geschichten, Orten, im Handwerk, in Rhythmen, Gesten, Gerüchen und Wiederholungen. Diese Erinnerung ist schwer zu löschen, nicht vollständig digitalisierbar und zutiefst MENSCHLICH. Systeme fürchten nicht Fakten. Sie fürchten gelebte KONTINUITÄT.
Deshalb wirken alte Architektur, Mythen und Rituale bis heute so stark – nicht wegen geheimer Technologien oder verlorenem geheimen Wissens, sondern weil sie ZEIT sichtbar machen, Maß halten, den Körper ansprechen und Gemeinschaft voraussetzen. Eine Kathedrale sagt nicht: Du bist klein. Sie sagt: Du bist Teil von etwas, das größer ist als deine Lebenszeit. Das steht im klaren Gegensatz zu einer Welt der sofortigen Belohnung, der Konsumidentität und der permanenten Optimierungslogik.
Erinnerung unterbricht zudem die Beschleunigung. Entmenschlichung braucht Tempo: keine Pausen, kein Nachspüren, keinen Rückbezug. Erinnerung dagegen verlangsamt, verbindet und wiederholt. Diese Wiederholung ist kein Stillstand, sondern Stabilität in Bewegung – ein Rhythmus, der trägt.
Moderne Macht verbietet Erinnerung deshalb selten offen. Sie verdünnt sie. Durch Informationsüberfluss, permanente Aktualisierung und historische Gleichsetzungen, in denen alles gleich schlimm oder gleich belanglos erscheint. Das Ergebnis ist nicht Vergessen, sondern eine flache Erinnerung. Doch ein Mensch, der sich WIRKLICH erinnert, ist schwerer zu hetzen, schwerer zu normieren und schwerer zu ersetzen.
Wichtig ist auch zu verstehen, dass Erinnerung nicht im Kopf beginnt. Sie beginnt im KÖRPER. Du erinnerst dich nicht zuerst an Ideen, sondern an Haltungen, Rhythmen, Nähe, an Arbeit mit den Händen, an geteilte Stille. Deshalb sind Gärten, Kochen, Handwerk, Singen, Gehen und Erzählen keine bloßen Hobbys. Sie sind Erinnerungstechnologien – einfache, alte, wirksame Formen, MENSCHLICHKEIT zu bewahren.
Dieser Widerstand ist individuell und kommt ohne Ideologie aus. Er braucht keine Gegner, keine Verschwörungen und keine großen Narrative. Er ist lokal, leise und nicht skalierbar. Und gerade deshalb ist er wirksam.
Gleichzeitig liegt hier eine gewisse Einschränkung: Wenn Erinnerung idealisiert, verabsolutiert oder gegen andere ausgespielt wird, kann sie selbst entmenschlichend werden. Echte Erinnerung hält AMBIVALENZ aus. Sie weiß um Verlust, akzeptiert Brüche und verlangt keine makellose Vergangenheit.
Wirksamster Widerstand unserer Zeit ist deshalb nicht, lauter zu werden oder immer neue „Erklärungen“ zu finden, sondern sich zu erinnern,
WIE ES SICH ANFÜHLT, MENSCH ZU SEIN.
Bild: Chanakya Lama

Schöner Text, würds jedoch nicht als 'Akt des Widerstands' ausdrücken - es ist einfach Sein und Selbstausdruck, dafür braucht es keine Gegner.
ReplyDeleteJa, das stimmt
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