Wahrheit ist, was unser Herz berührt und unser Leben verändert. Mit einem östlichen Blick auf unser westliches Denken ermuntert uns Paul Coutinho zu einer lebendigen Beziehung mit dem Göttlichen statt dem bloßen Praktizieren einer Religion.
Ich wurde in Goa geboren und verbrachte die meiste Zeit meines Lebens in Indien. Jedoch habe ich an der Universität von Saint Louis im Herzen Amerikas meinen Doktor in Theologie gemacht und die letzten fünfzehn Sommer damit verbracht, Studenten jeden Alters zu unterrichten. Ich kann Ihnen aus voller Überzeugung versichern, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem östlichen und dem westlichen Verständnis von Wahrheit. Das westliche Verständnis von Wahrheit ist eine Philosophie; es ist eine Reihe von Ansichten, über die man nachdenken und die man kennen kann. Das östliche Verständnis von Wahrheit ist eine Erfahrung; es ist eine Erfahrung, die der Philosophie widersprechen, der Wissenschaft trotzen und die heiligen Schriften herausfordern kann und dennoch, nach östlicher Auffassung, die Wahrheit ist.
Wahrheit ist, was unser Herz berührt und unser Leben verändert
Während meines ersten Semesters als Student an der Universität wurde mir von einem meiner Lehrer während einer Diskussion gesagt, ich sei ein Häretiker und werde zur Hölle fahren. Ich hatte zu ihm gesagt: „Ich weiß, dass Jesus eine historische Person ist – ich weiß es einfach. Wie würden Sie nun damit umgehen, wenn uns Schriftgelehrte plötzlich unwiderlegbar erklären würden, dass Jesus niemals existiert habe, dass alles nur ein Mythos sei, eine erfundene Geschichte?“ Mein Lehrer, ein Priester, der seit vielen Jahren Theologie unterrichtete, antwortete: „Wenn diese Gelehrten mir unwiderlegbar beweisen würden, dass Jesus nicht existiert hat, würde ich mein Priesteramt niederlegen, meiner Religiosität abschwören und mein Christentum aufgeben.“ Er sagte, er könnte sein Leben nicht auf einem Mythos aufbauen. Dann fragte er mich: „Und was wäre mit Ihnen?“ Ich antwortete, dass ich weiterhin auch für den Mythos sterben würde. Mein Lehrer hatte aus seinem westlichen verstandesmäßigen Verständnis von Wahrheit heraus geantwortet, und ich aus meinem östlichen Verständnis heraus, für das die Wahrheit das ist, was unser Herz berührt und unser Leben verändert – egal, ob es für diese Wahrheit einen historischen Beleg gibt.
Wohltätigkeit oder Mitgefühl?
Wie kann jemand in seinem Leben den Unterschied erkennen zwischen dem bloßen Praktizieren einer Religion und der tatsächlichen Entwicklung einer lebendigen Beziehung zu Gott? Nach meinen Erfahrungen und Beobachtungen ist es so, dass diejenigen, die ohne eine aktive Beziehung zu Gott Religion praktizieren, Wohltätigkeit praktizieren, während diejenigen, die eine Beziehung zu Gott haben, ein Leben im Mitgefühl führen. Um Ihnen ein Gefühl dafür zu geben, was ich mit diesen Wörtern meine, würde ich es so beschreiben: Ich tue Wohltätigkeitsarbeit, wenn ich die Situation selbst steuern kann. Ich kann entscheiden, wem ich helfen will, wie lange ich diesen Dienst ausüben werde und welchen Preis ich bereit bin, dafür zu zahlen. Schlussendlich entscheide ich. Wenn ich hingegen mitfühlend bin, entscheide nicht ich. Nicht ich steuere – ich werde in die Situation hineingezogen. Es ist mir egal, wer diese Person ist, für die ich etwas mache, was sie von mir braucht, wie viel Zeit ich mit ihr verbringen werde oder welchen Preis ich dafür zu zahlen habe. Die Konsequenzen, die sich aus dem Ruf nach mitfühlendem Handeln im gegenwärtigen Moment ergeben, sind zweitrangig.
Wie kann jemand in seinem Leben den Unterschied erkennen zwischen dem bloßen Praktizieren einer Religion und der tatsächlichen Entwicklung einer lebendigen Beziehung zu Gott? Nach meinen Erfahrungen und Beobachtungen ist es so, dass diejenigen, die ohne eine aktive Beziehung zu Gott Religion praktizieren, Wohltätigkeit praktizieren, während diejenigen, die eine Beziehung zu Gott haben, ein Leben im Mitgefühl führen. Um Ihnen ein Gefühl dafür zu geben, was ich mit diesen Wörtern meine, würde ich es so beschreiben: Ich tue Wohltätigkeitsarbeit, wenn ich die Situation selbst steuern kann. Ich kann entscheiden, wem ich helfen will, wie lange ich diesen Dienst ausüben werde und welchen Preis ich bereit bin, dafür zu zahlen. Schlussendlich entscheide ich. Wenn ich hingegen mitfühlend bin, entscheide nicht ich. Nicht ich steuere – ich werde in die Situation hineingezogen. Es ist mir egal, wer diese Person ist, für die ich etwas mache, was sie von mir braucht, wie viel Zeit ich mit ihr verbringen werde oder welchen Preis ich dafür zu zahlen habe. Die Konsequenzen, die sich aus dem Ruf nach mitfühlendem Handeln im gegenwärtigen Moment ergeben, sind zweitrangig.
Machen Sie den Test
Hier ist ein kleiner Test, mit dem Sie herausfinden können, ob Sie eine lebendige Beziehung zu Gott haben oder ob Sie lediglich eine Religion praktizieren: Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Passagier auf der Titanic, die gerade am Sinken ist. Dann malen Sie sich aus, wie Sie ganz allein, sicher und geborgen in einem Rettungsboot sitzen. Um Sie herum kämpfen Kinder darum, sich über Wasser zu halten. Sie sind in der Lage, diese zu fassen zu bekommen und sie alle zu retten. Doch etwas weiter entfernt schwimmen Ihre Angehörigen – Ihr Vater, Ihre Mutter, Ihre Brüder und Schwestern, vielleicht Ihre Kinder, vielleicht der Mensch, mit dem Sie verheiratet sind, vielleicht die Liebe Ihres Lebens.
Wenn Sie nicht versuchen, zu ihnen hinzukommen, werden ihre Angehörigen ganz gewiss alle untergehen und ertrinken. Unglücklicherweise können sie nicht die Kinder und Ihre Lieben retten. Wen würden Sie aus dem Wasser ziehen? Nun, wenn Sie die Kinder, die näher bei Ihnen sind, retten und schmerzerfüllt dabei zusehen, wie Ihre Lieben sterben, sind Sie erfüllt von Mitgefühl, das aus einer tiefen Beziehung mit dem Göttlichen stammt. Ihr Gott ist ein unendlicher Gott, der alle miteinander verbindet und vereint.
Wer ist mein Vater, meine Mutter, meine Brüder und Schwestern? Jeder ist es. Und wenn Sie Ihre Hand nach Ihren Lieben ausstrecken, weil diese Sie unterstützt und sich um Sie gesorgt haben und Sie sich aufgrund gegenseitiger Zuneigung und Verpflichtung irgendeiner Art mit ihnen verbunden fühlen, ist das zwar gut – doch dann praktizieren Sie Wohltätigkeit, die von Religion herrührt und bei der das Ich der Beweggrund ist. Diese Handlung der Wohltätigkeit ist durchaus gut, doch wir sollten danach streben, das Ideal des Mitgefühls zu verwirklichen.
Hier ist ein kleiner Test, mit dem Sie herausfinden können, ob Sie eine lebendige Beziehung zu Gott haben oder ob Sie lediglich eine Religion praktizieren: Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Passagier auf der Titanic, die gerade am Sinken ist. Dann malen Sie sich aus, wie Sie ganz allein, sicher und geborgen in einem Rettungsboot sitzen. Um Sie herum kämpfen Kinder darum, sich über Wasser zu halten. Sie sind in der Lage, diese zu fassen zu bekommen und sie alle zu retten. Doch etwas weiter entfernt schwimmen Ihre Angehörigen – Ihr Vater, Ihre Mutter, Ihre Brüder und Schwestern, vielleicht Ihre Kinder, vielleicht der Mensch, mit dem Sie verheiratet sind, vielleicht die Liebe Ihres Lebens.
Wenn Sie nicht versuchen, zu ihnen hinzukommen, werden ihre Angehörigen ganz gewiss alle untergehen und ertrinken. Unglücklicherweise können sie nicht die Kinder und Ihre Lieben retten. Wen würden Sie aus dem Wasser ziehen? Nun, wenn Sie die Kinder, die näher bei Ihnen sind, retten und schmerzerfüllt dabei zusehen, wie Ihre Lieben sterben, sind Sie erfüllt von Mitgefühl, das aus einer tiefen Beziehung mit dem Göttlichen stammt. Ihr Gott ist ein unendlicher Gott, der alle miteinander verbindet und vereint.
Wer ist mein Vater, meine Mutter, meine Brüder und Schwestern? Jeder ist es. Und wenn Sie Ihre Hand nach Ihren Lieben ausstrecken, weil diese Sie unterstützt und sich um Sie gesorgt haben und Sie sich aufgrund gegenseitiger Zuneigung und Verpflichtung irgendeiner Art mit ihnen verbunden fühlen, ist das zwar gut – doch dann praktizieren Sie Wohltätigkeit, die von Religion herrührt und bei der das Ich der Beweggrund ist. Diese Handlung der Wohltätigkeit ist durchaus gut, doch wir sollten danach streben, das Ideal des Mitgefühls zu verwirklichen.
Wie groß ist Ihr Gott?
Lassen Sie uns also um die Gnade bitten, mitfühlend sein zu können. In einer lebendigen Beziehung zu Gott sind wir damit verbunden und davon betroffen, was irgendjemandem in diesem Leben zustößt. Mit einem unendlich großen Gott verblasst die Hautfarbe, verblasst das Glaubensbekenntnis. Gut und Böse verblassen. Wir können hinausschauen über Hautfarbe, über Religion, über das moralisch Richtige oder Falsche einer Person. So wie Jesus sagte: „Ich verurteile die Sünde, doch niemals den Sünder.“ Der Sünder bin auch ich. Ich lobe die Tugend, doch auch die nicht tugendhafte Person bin ich. Wenn ich mich in einem Zusammenhang mit dem inneren Wesen einer anderen Person sehe und mich genauso um die Welt wie um mich selbst sorge, dann weiß ich, dass ich in einer lebendigen Beziehung zum Göttlichen stehe. Als ich den oben geschilderten Fall meinen Studenten an der Universität vorlegte, erhob einer den Einwand: „Also gibt es im Mitgefühl keine Freiheit!“ Ich erwiderte ihm: Freiheit bedeutet, ohne Bedingungen auf das Leben zu antworten. In der Wohltätigkeitsarbeit ist meine Fähigkeit zu antworten dagegen begrenzt: auf die Menschen, die ich mir aussuche, um ihnen zu helfen, auf die Zeit, die zu investieren ich gewillt bin, und auf den Preis, den zu zahlen ich bereit bin. Im Mitgefühl ist die Fähigkeit zu antworten vollkommen ohne diese Begrenzungen.
Lassen Sie uns also um die Gnade bitten, mitfühlend sein zu können. In einer lebendigen Beziehung zu Gott sind wir damit verbunden und davon betroffen, was irgendjemandem in diesem Leben zustößt. Mit einem unendlich großen Gott verblasst die Hautfarbe, verblasst das Glaubensbekenntnis. Gut und Böse verblassen. Wir können hinausschauen über Hautfarbe, über Religion, über das moralisch Richtige oder Falsche einer Person. So wie Jesus sagte: „Ich verurteile die Sünde, doch niemals den Sünder.“ Der Sünder bin auch ich. Ich lobe die Tugend, doch auch die nicht tugendhafte Person bin ich. Wenn ich mich in einem Zusammenhang mit dem inneren Wesen einer anderen Person sehe und mich genauso um die Welt wie um mich selbst sorge, dann weiß ich, dass ich in einer lebendigen Beziehung zum Göttlichen stehe. Als ich den oben geschilderten Fall meinen Studenten an der Universität vorlegte, erhob einer den Einwand: „Also gibt es im Mitgefühl keine Freiheit!“ Ich erwiderte ihm: Freiheit bedeutet, ohne Bedingungen auf das Leben zu antworten. In der Wohltätigkeitsarbeit ist meine Fähigkeit zu antworten dagegen begrenzt: auf die Menschen, die ich mir aussuche, um ihnen zu helfen, auf die Zeit, die zu investieren ich gewillt bin, und auf den Preis, den zu zahlen ich bereit bin. Im Mitgefühl ist die Fähigkeit zu antworten vollkommen ohne diese Begrenzungen.
Groß genug für die Verbundenheit mit allem?
Hören Sie nicht auf, wohltätig zu sein, doch bitten Sie um die Gnade, mehr und mehr mitfühlend zu sein. Denn wenn Sie eine Beziehung zu Gott haben, wenn Sie mitfühlend sind, werden Sie Gott überall erfahren. Wenn Sie eine Beziehung zu einem mitfühlenden Gott haben, geschehen gute Dinge, wunderbare Dinge. Im Mitgefühl feiere ich das Gute, weil dieses Gute ebenso ein Teil von mir ist. Wenn irgendein Mensch in der Welt etwas ganz Besonderes tut, werde ich zu dieser Person hingezogen und auch ich fühle mich besonders. Ich habe teil an dieser Erfahrung, weil jene Person Teil von mir ist. Wenn jemand feiert, feiere ich mit dieser Person. Wenn jemand verletzt, verletze ich mit dieser Person. Ich bin also Teil des Lebens eines jeden Menschen, und jeder Mensch ist Teil meines Lebens. Diese menschliche Verbundenheit durch unsere göttliche Verbindung zu erfahren, ist der Übergang von der Wohltätigkeit zum Mitgefühl.
ÜBER DEN AUTOR
Paul Coutinho ist ein jesuitischer Priester, international bekannter Gelehrter und Referent, der westliche Spiritualität und Psychologie mit östlichen Einsichten bereichert. Er leitet Seminare und Klausuren, die sich der unermüdlichen Suche des Herzens nach dem Göttlichen widmen wie auch dem Verlangen, das Leben in seiner ganzen Fülle zu erfahren. Er studierte Psychologie und promovierte zum Doktor der Historischen Theologie an der Saint Louis University in den Vereinigten Staaten.
Paul Coutinho ist Autor verschiedener Bücher. Sein erster in deutscher Sprache erschienener Titel lautet „Wie groß ist dein Gott? – Über die Freiheit, das Göttliche zu erfahren“, Chalice Verlag 2017
Hören Sie nicht auf, wohltätig zu sein, doch bitten Sie um die Gnade, mehr und mehr mitfühlend zu sein. Denn wenn Sie eine Beziehung zu Gott haben, wenn Sie mitfühlend sind, werden Sie Gott überall erfahren. Wenn Sie eine Beziehung zu einem mitfühlenden Gott haben, geschehen gute Dinge, wunderbare Dinge. Im Mitgefühl feiere ich das Gute, weil dieses Gute ebenso ein Teil von mir ist. Wenn irgendein Mensch in der Welt etwas ganz Besonderes tut, werde ich zu dieser Person hingezogen und auch ich fühle mich besonders. Ich habe teil an dieser Erfahrung, weil jene Person Teil von mir ist. Wenn jemand feiert, feiere ich mit dieser Person. Wenn jemand verletzt, verletze ich mit dieser Person. Ich bin also Teil des Lebens eines jeden Menschen, und jeder Mensch ist Teil meines Lebens. Diese menschliche Verbundenheit durch unsere göttliche Verbindung zu erfahren, ist der Übergang von der Wohltätigkeit zum Mitgefühl.
ÜBER DEN AUTOR
Paul Coutinho ist ein jesuitischer Priester, international bekannter Gelehrter und Referent, der westliche Spiritualität und Psychologie mit östlichen Einsichten bereichert. Er leitet Seminare und Klausuren, die sich der unermüdlichen Suche des Herzens nach dem Göttlichen widmen wie auch dem Verlangen, das Leben in seiner ganzen Fülle zu erfahren. Er studierte Psychologie und promovierte zum Doktor der Historischen Theologie an der Saint Louis University in den Vereinigten Staaten.
Paul Coutinho ist Autor verschiedener Bücher. Sein erster in deutscher Sprache erschienener Titel lautet „Wie groß ist dein Gott? – Über die Freiheit, das Göttliche zu erfahren“, Chalice Verlag 2017
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