2019-09-30

Das Leiden der Stille


Erleuchtung… das letzte aller nur möglichen Ziele eines Ichs auf der Lebens- & Leidensreise. Wenn alle spirituellen Stationen mehr oder weniger bewusst, aber erfolglos durchlebt wurden, hört der spirituell suchende Mensch eventuell irgendwann mal die Worte „Erwachen“ und „Erleuchtung“. Namen wie Ramana Maharshi, Papaji, Nisargadatta Maharaj oder Ramesh Balsekar und andere kreuzen plötzlich seinen Suchensweg. Fragen wie „Wer bin Ich?“ drehen die Aufmerksamkeit zurück auf den Suchenden selbst und der Ich- Verstand, der bis dato sein Seelenheil in der Veränderung und Verbesserung seiner selbst gesehen hat, beschäftigt sich nun mit der Frage „Wer bin ich eigentlich?“.

Auf sich selbst zurückgeworfen verliert die Erfüllungs-Suche mehr und mehr an Bedeutung und das, was denkt, nicht erfüllt zu sein, wird nun zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit: Wer oder was ist denn dieses „Ich“? Wenn es der Schöpfungsplan beinhaltet, steht am Ende dieser Reise die Selbsterkenntnis, auch bezeichnet als Erwachen oder Erleuchtung. So wie jeder Wassertropfen, der in den Ozean zurückfällt und wieder ein untrennbarer Teil des Ozeans wird, wird jedes Ich, welches zurück in das Sein fällt, wieder zur Quelle, zum AllEinen selbst.

Der Gedanke, es gibt mich als „Ich“, als Mensch mit Persönlichkeit, Charakter und Lebensgeschichte, wird aus dem Denken rückstandslos gelöscht, und übrig bleibt die Wahrheit. Wahrheit bedeutet, es gibt nur das unwahrnehmbare AllEine, ohne ein Zweites, und das, was wir Realität nennen, ist nichts weiter als Illusion, “Maya“, Traum, „Lila – das Spiel Gottes“. Erleuchtung bedeutet zu sterben, bevor der Körper stirbt, und zu überleben ohne einen Überlebenden. Das Einzige, was wirklich existiert, ist das, was von Menschheitsbeginn an – zwar mit unzähligen Namen, jedoch immer erfolglos – versucht wurde zu beschreiben. Gott, Quelle, Schöpfer, Great Mystery, Universum, AllEines, Bewusstsein, Sein sind nur einige Bezeichnungen – aber kein Wort der Welt kann etwas beschreiben, was eigenschaftslos ist.

Das, was wir essenziell sind, ist jenseits aller Worte und jenseits von allem Denken, immer und ewig, ohne Anfang und ohne Ende da. Durch die „Erleuchtung“ stirbt schlagartig der Gedanke, eine Person, ein „Ich“ zu sein, und übrig bleibt das, was sowieso immer da ist…

Das Unerfahrbare wird paradoxerweise erfahren ohne jemanden, der es erfährt. Diese Worte suggerieren, dass nach der Erleuchtung das Leben absolut leidensfrei und erfüllt sein müsste. Nur noch voll von Bliss und Flow schwebt der Erleuchtete einen halben Meter über dem Boden, immer liebevoll, allmächtig und allwissend lächelnd. Umgeben von göttlich heiliger Aura, von Satsang zu Satsang, ruhig und still vor sich hin meditierend und „OM“-chantend spricht und schweigt er seine Schüler und Devotees ebenfalls direkt in den erleuchteten Zustand. Nun, da scheinbar eine Art „Massenerwachen“ im Gange ist und die Zahl der Gurus und spirituellen Lehrer nicht nur in Indien, sondern auch in der westlichen Welt rasant ansteigt und das „Erleuchtungsphänomen“ auch immer mehr in das spirituelle Bewusstsein rückt, wird es Zeit, diese gedankliche „heilige Kuh“ – mal liebevoll und wertschätzend, aber gnadenlos – zur Schlachtbank zu führen und mit dem heiligen Mysterium „Erwachen & Erleuchtung“ mal grundlegend aufzuräumen – dazu dient die Kolumne „Das Leiden der Stille!“

Keiner mehr da und auch nie da gewesen – Erleuchtung hinterlässt keinen Erleuchteten. Erleuchtung bedeutet, ganz einfach formuliert, dass der Mensch wieder zu Gott wird, da erkannt wird, dass das Menschsein nur ein Gedanke war, aber keine Wahrheit ist. Es gab niemals einen Menschen und eine Welt und alles andere, sondern immer nur die Quelle – oder wie auch immer benannt –, die einen „Mensch-sein-Traum“ träumt. Mit dieser Erkenntnis endet aber keineswegs die Rolle, die in diesem Traumspiel zu spielen ist. Der Traum geht weiter und mit ihm auch die jeweilige Rolle, gemäß ihrem Part im Schöpfungs-Drehbuch – jedoch ohne einen Rollenspieler. Die Rolle spielt sich sozusagen spielerlos, läuft auf Autopilot und erfährt alles, was es zu denken, fühlen und machen gibt.

So existieren inzwischen nicht nur die diversen menschlichen Rollen, sondern auch die unterschiedlichsten „Erleuchteten-Rollen“. Den angehimmelten, auf einem Podest sitzenden, heiligen indischen Guru, der vom weltlichen Geschehen völlig zurückgezogen im eigenen Ashram nur noch Wahrheit lehrt, gibt es ebenso wie den, der „trotz Erleuchtung“ ein ganz normales menschliches Leben führt und überhaupt nicht spirituell auffällt. Was alle vereint, ist das paradoxe Erfahren, dass es zwar Taten gibt, aber keinen Täter, Handlungen, aber niemanden, der handelt. Das gesamte menschliche Wahrnehmungspotenzial wird mit allem nur Möglichen ausgeschöpft… sprechen, schweigen, lachen, weinen, denken, fühlen, reagieren – einfach allem.

Das alles findet ohne den getrennt von anderen existierenden Menschen statt und auch nicht wirklich, sondern nur im Traum. In Wahrheit passiert niemals irgendwas! Wie sollte es auch, wenn es nur das AllEine ohne ein Zweites gibt?! In der Welt, aber nicht von ihr…

Quelle: https://www.sein.de/das-leiden-der-stille/

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