In den letzten Jahrzehnten gab es viele Experimente mit Führung und Gemeinschaft: unter anderem die basis demokratischen Versuche der Studentenbewegung, neue Formen der spirituellen Lehrer-Schüler-Beziehung und Erfahrungen mit kollektiver Intelligenz. evolve-Herausgeber Tom Steininger reflektiert über seinen eigenen Weg durch diesen Wandel der Zeit und wagt einen Ausblick in die Zukunft von Führung und menschlichem Miteinander.
Die Zeitschrift evolve ist nicht die erste Zeitschrift, die ich herausgebe. Mit sechzehn begann ich in meiner Schule in Linz mit der Herausgabe einer Schülerzeitung. Damals war es mein frisch erwachtes Interesse an Demokratie und Mitbestimmung, das mich dazu führte, Klassensprecher zu werden und mich auch mit einer kritischen Zeitschrift für mehr Mitsprache an der Schule einzusetzen. Seit damals begleitet mich das Thema Macht und Kontrolle, Führungskultur und Partizipation in verschiedensten Formen. Mein Engagement für Mitbestimmung führte mich nach meiner Schulzeit dazu, mich an der Universität in Wien als Studentenvertreter zu engagieren.
Ich kann mich noch an eines unserer vielen Basisgruppentreffen an der philosophischen Fakultät erinnern. Wir dis kutierten darüber, welchem Lehrbe – auftragten wir Studierenden für das nächste Semester unsere Unterstützung geben sollten. In Österreich haben Studenten ein Mitspracherecht bei solchen Entscheidungen. Wir hatten alle Studierenden der Fachschaft eingeladen und der Raum war vollkommen überfüllt. Jeder und jede, der oder die an diesem Nachmittag in die Fachschaftsvertretung kam, hatte eine Stimme. Wir nannten das Basisdemokratie. Die verschiedenen ideologischen Gruppen hatten ihre Freunde mitgebracht und es wurde heftig und lang über die Gesellschaft als Ganzes, die Ideen von Karl Marx, die Fehlentwicklungen im Regierungssystem und den Bürgerkrieg in Nicaragua diskutiert. Ich weiß nicht mehr, zu welchem Schluss wir kamen, aber ich erinnere mich an eines: Die Entscheidung hatte nichts mit der Sache selbst zu tun. Die Leute, die abstimmten, wussten zumeist nicht, um welche Lehrbeauftragten und Lehrinhalte es eigentlich ging. Wichtig war vor allem, dass jeder, der an diesem Nachmittag anwesend war, seine Stimme abgegeben hatte. Jeder konnte seine Meinung einbringen – und wir nahmen uns viel Zeit, um über unsere Weltanschauungen zu streiten.
Mit großen Idealen angetreten
Meine Begeisterung für Mitbestimmung und Partizipation hatte mich in die Schülervertretung und in die politische Arbeit an der Universität geführt. Obwohl diese Begeisterung mein ganzes weiteres Leben begleiten sollte, hatte mich meine Erfahrung mit unserer studentischen Basisdemokratie damals auch verunsichert. Und diese Verunsicherung bezog sich vor allem auf uns selbst: Wir waren mit großen Idealen angetreten, aber unser Alltag sah doch ganz anders aus. Eitelkeit spielte eine große Rolle, und unsere jugendliche Besserwisserei führte im Umgang miteinander nicht nur zu heftigen und endlosen Debatten, sondern auch zu sehr unschönen politischen Schachzügen. Von außen betrachtet erinnerten manche dieser In trigen an die Vorgänge in der etablierten Politik, die wir doch kritisieren wollten.
Unser Misstrauen steht uns im Wege
Diese Erfahrungen werfen eine Frage auf: Warum fällt es Menschen so schwer zusammenzukommen? Damals wäre meine Antwort klar gewesen: Wir dachten, es seien die Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft, die einem solidarischen Leben im Wege stehen. Erst rückblickend fällt mir auf, dass unser Umgang miteinander von einem tiefen Misstrauen geprägt war. Wir misstrauten der Gesellschaft, wir misstrauten den Verantwortungsträgern und wir misstrauten einander. Sicher hatten wir dafür auch gute Gründe. Es gab und gibt im menschlichen Miteinander viele Dinge, denen man besser nicht blind vertraut. Aber unser alles durchdringendes Misstrauen lähmte doch jede Form von Gemeinschaft. Erst jetzt beginne ich zu verstehen, wie unser damaliges Ideal einer Basisdemokratie auf diesem alles durchdringenden Misstrauen „basierte“. Die Idee dabei war, dass jeder alles kontrollieren konnte. Jeder sollte in allen Belangen ein Mitbestimmungsrecht haben. Das heißt aber auch: Niemand sollte vertrauen müssen. Es ist sicher kein Zufall, dass ich mich neben diesen endlosen und meist fruchtlosen Debatten vor allem an einen Eindruck gut erinnern kann: Unsere Studentenvertretung an der philosophischen Fakultät hatte ein nagelneues Büro zur Verfügung gestellt bekommen. Es dauerte kein halbes Jahr, bis die weißen Innenwände des Büros mit politischen Graffitis überzogen waren und die schönen, gepflegten Räume, die wir übernommen hatten, in einem Zustand waren, der mich schon damals tief erschreckte. Zwischen unseren Idealen von einer solidarischen Gesellschaft und unserem oft destruktiven Handeln herrschte offensichtlich eine tiefe Kluft.
Mein Abschied aus der Studentenpolitik hatte viel mit dieser Irritation zu tun. Unsere solidarischen Ideale schienen uns nicht dazu zu bringen, unsere Selbstherrlichkeit zu überwinden, wir waren unfähig, miteinander eine vertrauensvolle Kultur zu entwickeln. Ich spürte, dass eine solche vertrauensvolle Kultur aus einer anderen Quelle kommen musste.
Auf der Suche nach dieser „Quelle“ verbrachte ich zunächst einige Jahre mit Psychotherapie und Selbsterfahrung. Schließlich begann ich, mich immer mehr für spirituelle Themen zu interes – sieren. Meine spirituelle Suche wurde auch zu einer Suche nach Vertrauen. In einem spirituellen Kontext hat die Frage nach dem Vertrauen immer mehrere Dimensionen: Wie tief kann ich mir selbst vertrauen? Wir tief kann ich dem Leben vertrauen? Und wie tief kann ich anderen Menschen vertrauen?
Als ich diesen Fragen nachging, musste ich mir eingestehen, dass ich in meiner Studentenzeit und auch in den Jahren, in denen ich mich mit Psychotherapie und Selbsterfahrung beschäftigt hatte, immer spürbarer mit meiner eigenen Arroganz und Überheblichkeit konfrontiert wurde.
Lehrer, Schüler, Wir
Diese Einsicht war einer der Gründe, die dazu führten, dass ich mich in eine Lehrer-Schüler-Beziehung mit dem spirituellen Lehrer Andrew Cohen begab. Ich wollte herausfinden, was geschieht, wenn man jemandem vertraut, den man als zutiefst vertrauenswürdig erfährt. Wie kann ich mich entwickeln, wenn ich solch einem Menschen mehr vertraue als meiner Arroganz oder Überheblichkeit? Sich so auf einen spirituellen Lehrer einzulassen, ist sicher ein hochriskantes Projekt, denn Vertrauen bedeutet immer Kontrollverlust. Das ist das Risiko von Vertrauen. Wahrscheinlich ist ein spiritueller Kontext nötig, um so tief vertrauen zu können. Man könnte es auch umgekehrt sagen: Wirklich tiefes Vertrauen eröffnet bewusst oder unbewusst eine spirituelle Dimension.
Meine Erfahrung der Lehrer-Schüler-Beziehung war von diesem Vertrauen geprägt und eröffnete mir wirklich Dimensionen, die mir ohne ein solches radikales Vertrauen wahrscheinlich nie zugänglich gewesen wären. Sie war aber auch der Eintritt in eine Kultur, die so ziemlich das Gegenteil meiner basisdemokratischen Vergangenheit war. Es war die klassische Form einer Pyramidenhierarchie. Hierarchische Strukturen waren und sind in vielen spirituellen Traditionen lebendig. Es gibt sie aber natürlich nicht nur in einem spirituellen Kontext; sie prägen viele unserer Unternehmen und Organisationen. Auch charismatische Führungspersönlichkeiten, deren Ideen und Visionen wir unser Vertrauen geben, finden sich außerhalb spiritueller Zusammenhänge. Steve Jobs konnte Apple auch deswegen so erfolgreich machen, weil seine Mitarbeiter und Kunden ihm und seinen technischen Visionen vertrauten.
Negative und positive Hierarchien
In diesem Zusammenhang kann man Hierarchien unterscheiden, die auf politischer oder wirtschaftlicher Macht beruhen. Diese Strukturen sind nicht frei gewählt. Oft sind sie Formen von „Gewalthierarchie“, in denen eine Gruppe an der Spitze durch Macht ihre Privilegien verteidigt. Das kann auch in Hierarchien geschehen, die aus Vertrauen entstehen. Aber Vertrauenshierarchien können auch als Entwicklungshierarchie gelebt werden, die Menschen in ihrem Wachsen unterstützt. Meine Zeit in einer spirituellen Pyramidenhierarchie hat mir einerseits diese positive Wirkung gezeigt, denn wenn Vertrauen die Grundlage ist, bildet sich eine Struktur, die den Einzelnen fördert. Aber ich habe auch erfahren, dass solche hierarchischen Zusammenhänge leicht dazu neigen können, die lebendige Vielfalt zwischen Menschen und die Kreativität unterschiedlicher Perspektiven zu unterdrücken. Ein Grund dafür ist auch, dass wir heute als Individuen einen Anspruch auf Autonomie und Selbstbestimmung haben, den es so noch nicht gab, als viele der traditionellen Hierarchien entstanden.
Aber es gibt noch eine weitere Erfahrung, die mir zeigte, dass eine andere Form des Miteinanders möglich ist, und die steht zumindest zu der klassischen Pyramidenhierarchie in einem starken Gegensatz. Es ist die Möglichkeit, als Menschen jenseits unserer Egostrukturen in einem gemeinsamen, kreativen Wir-Feld zusammenzukommen, wo Vertrauen auf eine neue Art entstehen kann. Unser Misstrauen basiert immer auf der Annahme, dass wir voneinander getrennt sind. In einem höheren Wir-Feld können wir aber die Erfahrung eines gemeinsamen Bewusstseinsraums machen, der genauso real ist wie unsere unabhängigen „Ich-Räume“. In jahrelangen Experimenten mit neuen Formen des Zusammenkommens in einem bewussten Wir war es ein natürlicher Übergang, auch darüber nach – zudenken, was eine solche Kultur in konkreten Arbeitszusammenhängen bedeutet. Wie verändert sich in diesem Zusammenhang unser Verständnis von Leadership? Können wir in der bewussten Arbeit mit Wir-Räumen ihre Dynamik, Möglichkeitshorizonte und organische Struktur dafür verwenden, ein neues Verständnis von Leadership zu entwickeln?
Evolutionäre Organisation
In dieser Zeit traf ich Richard Hawkes, einen der weltweiten Pioniere einer neuen Organisationskultur, der mit seiner Beratungsfirma Growth River ein evolutionäres Organisationsmodell entwickelt hat. Als er mir davon erzählte, spürte ich viele Gemeinsamkeiten zu den Qualitäten, die ich in Erfahrungen eines höheren Wir erlebt hatte. Und so wie ich war auch er in der Beratung von Unternehmen an die Grenzen der klassischen Pyramidenkultur gestoßen.
Richard Hawkes spricht in seiner Arbeit von mehreren Stufen, die Organisationen durchlaufen, wenn sie sich zu ihrem eigentlichen Potenzial entwickeln wollen. Meistens fangen wir als eine Gruppe von Einzelkämpfern an, die sich irgendwie zusammenraufen. Um besser zusammenarbeiten zu können, entwickelt sich oft ein Zentrum, das alle anderen Bereiche organisiert. Das führt dann zu einer direktiven Struktur, die meist als Hierarchie gestaltet ist, und viele Organisationen bleiben in dieser Struktur. Eine ganz neue Möglichkeit entsteht aber, wenn alle Teile einer Organisation wissen, welche Rolle sie in der Organisation haben, und gleichzeitig mit der Lebensaufgabe der Organisation als Ganzes verbunden sind. In dem Maße, in dem alle Beteiligten dieses doppelte Verständnis von Teil und Ganzem entwickeln und daraus gemeinsam handeln, wird die Organisation zu so etwas wie einer „selbstbewussten“ Organisation. Das deckte sich mit meiner Erfahrung, dass wir einen Wir-Raum wirklich als solch ein lebendiges „Wesen“ erleben können.
Inspiriert von dieser Begegnung und der Zusammenarbeit mit Richard Hawkes, in der wir zum Beispiel auch unsere Arbeit von evolve nach diesen Grundsätzen gestalteten, begann ich mich weiter nach neuen Ansätzen der Organisation umzusehen. Dabei merkte ich, dass unter den Menschen, die über neue Organisationsformen nachdenken, einige zu sehr verwandten Antworten kamen. Eine neue Wir-Kultur scheint viele innovative Denker zu beschäftigen. Vor einigen Monaten interviewte ich Frederic Laloux in unserem Webcast Radio evolve zu seinem neuen Buch. Er schilderte dort eine neue Definition von Leadership, die mich seither sehr beschäftigt. Laloux spricht davon, dass in einer neuen Form von Leadership die Führenden zugleich weniger und mehr Verantwortung tragen als in herkömmlichen Organisationen. Weniger Verantwortung deshalb, weil nicht mehr alle Entscheidungen von ihnen allein getroffen werden müssen. Gleichzeitig haben sie aber viel mehr Verantwortung als früher. Diese neue Verantwortung besteht nicht darin, Entscheidungen zu zentralisieren, sondern den kollektiven Wir-Raum so zu formen und zu unterstützen, dass Entscheidungen aus diesem gemeinsamen Raum kommen können. Die neue Verantwortung liegt also darin, einen Wir-Raum zu fördern, der es der kollektiven Intelligenz ermöglicht, gemeinsame Entscheidungen und Strategien zu entwickeln. Zudem gehört zu dieser neuen Führungsaufgabe auch, Blockaden im Wir-Raum zu sehen und möglichst aufzulösen oder zu lindern. Idealerweise fällt ein Leitungsverantwortlicher nur noch dann Entscheidungen in klassischer Form, wenn er/sie als „Feuerwehrmann/frau“ in besonderen Situationen eingreifen muss.
Ein neues Vertrauen
Ein anderer Vordenker einer neuen Organisationskultur ist Peter Merry vom holländischen Center of Human Emergence. Ich hörte einen Vortrag vom ihm auf der Europäischen Integralen Konferenz in Budapest im Mai diesen Jahres, der den Titel „Leading from the Field“ trug. Die Prinzipien, die er dabei ansprach, stimmten in vielem mit meiner Erfahrung in der Arbeit mit Wir-Räumen überein. Ein Punkt in seinen Ausführungen war, dass wir uns unseres Verantwortungsbereichs als Bewusstseinsfeld bewusst werden können. Egal ob unser Verantwortungsbereich eine Gesprächsgruppe, ein Arbeitsteam oder eine Firma ist, dieser Verantwortungsbereich ist nicht nur ein System, das ich von außen analysieren kann. Und es ist auch nicht nur ein Netzwerk von Einzelbeziehungen. Stattdessen kann man sagen: Mit all seinen Differenzierungen ist es ein gemeinsames Bewusstseinsfeld. Diese Innenperspektive erlaubt Einsichten, die wir von außen, wenn wir es lediglich als System oder als zwischenmenschliches Netzwerk analysieren, nicht erkennen.
Meine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Fragen der Mitbestimmung, mit Vertrauen versus Kontrolle in unserer Gesellschaft, in spirituellen Kontexten und unseren Organisationen bringt mich heute zu der Auffassung, dass wir uns am Anfang einer sehr aufregenden Entwicklung befinden. In der entstehenden Wir-Kultur stellen sich die Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders, des Führens und Mitbestimmens neu.
Viele Vordenker beschreiben dieses neue Potenzial aus unterschiedlichen Perspektiven. Es bedeutet etwas ganz anderes, einem gemeinsamen Wir-Raum Vertrauen zu schenken, als lediglich einzelnen Führungspersönlichkeiten. Und Führen bedeutet etwas ganz anderes, wenn es nicht darum geht, allein einsame Entscheidungen zu treffen, sondern eine gemeinsame Kultur so zu gestalten, dass die kollektive Weisheit und kollektive Kreativität nicht nur schöne Begriffe sind, sondern eine lebendige Wirklichkeit.
Der Artikel erschien zuerst im Magazin evolve www.evolvemagazin.de www.facebook.com/evolve.magazin
Gelesen bei: https://www.sein.de/schritte-des-vertrauens-zwischen-basisdemokratie-hierarchie-und-wir-raeumen/
Abb: © WoGi - Fotolia.com |
Ich kann mich noch an eines unserer vielen Basisgruppentreffen an der philosophischen Fakultät erinnern. Wir dis kutierten darüber, welchem Lehrbe – auftragten wir Studierenden für das nächste Semester unsere Unterstützung geben sollten. In Österreich haben Studenten ein Mitspracherecht bei solchen Entscheidungen. Wir hatten alle Studierenden der Fachschaft eingeladen und der Raum war vollkommen überfüllt. Jeder und jede, der oder die an diesem Nachmittag in die Fachschaftsvertretung kam, hatte eine Stimme. Wir nannten das Basisdemokratie. Die verschiedenen ideologischen Gruppen hatten ihre Freunde mitgebracht und es wurde heftig und lang über die Gesellschaft als Ganzes, die Ideen von Karl Marx, die Fehlentwicklungen im Regierungssystem und den Bürgerkrieg in Nicaragua diskutiert. Ich weiß nicht mehr, zu welchem Schluss wir kamen, aber ich erinnere mich an eines: Die Entscheidung hatte nichts mit der Sache selbst zu tun. Die Leute, die abstimmten, wussten zumeist nicht, um welche Lehrbeauftragten und Lehrinhalte es eigentlich ging. Wichtig war vor allem, dass jeder, der an diesem Nachmittag anwesend war, seine Stimme abgegeben hatte. Jeder konnte seine Meinung einbringen – und wir nahmen uns viel Zeit, um über unsere Weltanschauungen zu streiten.
Mit großen Idealen angetreten
Meine Begeisterung für Mitbestimmung und Partizipation hatte mich in die Schülervertretung und in die politische Arbeit an der Universität geführt. Obwohl diese Begeisterung mein ganzes weiteres Leben begleiten sollte, hatte mich meine Erfahrung mit unserer studentischen Basisdemokratie damals auch verunsichert. Und diese Verunsicherung bezog sich vor allem auf uns selbst: Wir waren mit großen Idealen angetreten, aber unser Alltag sah doch ganz anders aus. Eitelkeit spielte eine große Rolle, und unsere jugendliche Besserwisserei führte im Umgang miteinander nicht nur zu heftigen und endlosen Debatten, sondern auch zu sehr unschönen politischen Schachzügen. Von außen betrachtet erinnerten manche dieser In trigen an die Vorgänge in der etablierten Politik, die wir doch kritisieren wollten.
Unser Misstrauen steht uns im Wege
Diese Erfahrungen werfen eine Frage auf: Warum fällt es Menschen so schwer zusammenzukommen? Damals wäre meine Antwort klar gewesen: Wir dachten, es seien die Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft, die einem solidarischen Leben im Wege stehen. Erst rückblickend fällt mir auf, dass unser Umgang miteinander von einem tiefen Misstrauen geprägt war. Wir misstrauten der Gesellschaft, wir misstrauten den Verantwortungsträgern und wir misstrauten einander. Sicher hatten wir dafür auch gute Gründe. Es gab und gibt im menschlichen Miteinander viele Dinge, denen man besser nicht blind vertraut. Aber unser alles durchdringendes Misstrauen lähmte doch jede Form von Gemeinschaft. Erst jetzt beginne ich zu verstehen, wie unser damaliges Ideal einer Basisdemokratie auf diesem alles durchdringenden Misstrauen „basierte“. Die Idee dabei war, dass jeder alles kontrollieren konnte. Jeder sollte in allen Belangen ein Mitbestimmungsrecht haben. Das heißt aber auch: Niemand sollte vertrauen müssen. Es ist sicher kein Zufall, dass ich mich neben diesen endlosen und meist fruchtlosen Debatten vor allem an einen Eindruck gut erinnern kann: Unsere Studentenvertretung an der philosophischen Fakultät hatte ein nagelneues Büro zur Verfügung gestellt bekommen. Es dauerte kein halbes Jahr, bis die weißen Innenwände des Büros mit politischen Graffitis überzogen waren und die schönen, gepflegten Räume, die wir übernommen hatten, in einem Zustand waren, der mich schon damals tief erschreckte. Zwischen unseren Idealen von einer solidarischen Gesellschaft und unserem oft destruktiven Handeln herrschte offensichtlich eine tiefe Kluft.
Mein Abschied aus der Studentenpolitik hatte viel mit dieser Irritation zu tun. Unsere solidarischen Ideale schienen uns nicht dazu zu bringen, unsere Selbstherrlichkeit zu überwinden, wir waren unfähig, miteinander eine vertrauensvolle Kultur zu entwickeln. Ich spürte, dass eine solche vertrauensvolle Kultur aus einer anderen Quelle kommen musste.
Auf der Suche nach dieser „Quelle“ verbrachte ich zunächst einige Jahre mit Psychotherapie und Selbsterfahrung. Schließlich begann ich, mich immer mehr für spirituelle Themen zu interes – sieren. Meine spirituelle Suche wurde auch zu einer Suche nach Vertrauen. In einem spirituellen Kontext hat die Frage nach dem Vertrauen immer mehrere Dimensionen: Wie tief kann ich mir selbst vertrauen? Wir tief kann ich dem Leben vertrauen? Und wie tief kann ich anderen Menschen vertrauen?
Als ich diesen Fragen nachging, musste ich mir eingestehen, dass ich in meiner Studentenzeit und auch in den Jahren, in denen ich mich mit Psychotherapie und Selbsterfahrung beschäftigt hatte, immer spürbarer mit meiner eigenen Arroganz und Überheblichkeit konfrontiert wurde.
Lehrer, Schüler, Wir
Diese Einsicht war einer der Gründe, die dazu führten, dass ich mich in eine Lehrer-Schüler-Beziehung mit dem spirituellen Lehrer Andrew Cohen begab. Ich wollte herausfinden, was geschieht, wenn man jemandem vertraut, den man als zutiefst vertrauenswürdig erfährt. Wie kann ich mich entwickeln, wenn ich solch einem Menschen mehr vertraue als meiner Arroganz oder Überheblichkeit? Sich so auf einen spirituellen Lehrer einzulassen, ist sicher ein hochriskantes Projekt, denn Vertrauen bedeutet immer Kontrollverlust. Das ist das Risiko von Vertrauen. Wahrscheinlich ist ein spiritueller Kontext nötig, um so tief vertrauen zu können. Man könnte es auch umgekehrt sagen: Wirklich tiefes Vertrauen eröffnet bewusst oder unbewusst eine spirituelle Dimension.
Meine Erfahrung der Lehrer-Schüler-Beziehung war von diesem Vertrauen geprägt und eröffnete mir wirklich Dimensionen, die mir ohne ein solches radikales Vertrauen wahrscheinlich nie zugänglich gewesen wären. Sie war aber auch der Eintritt in eine Kultur, die so ziemlich das Gegenteil meiner basisdemokratischen Vergangenheit war. Es war die klassische Form einer Pyramidenhierarchie. Hierarchische Strukturen waren und sind in vielen spirituellen Traditionen lebendig. Es gibt sie aber natürlich nicht nur in einem spirituellen Kontext; sie prägen viele unserer Unternehmen und Organisationen. Auch charismatische Führungspersönlichkeiten, deren Ideen und Visionen wir unser Vertrauen geben, finden sich außerhalb spiritueller Zusammenhänge. Steve Jobs konnte Apple auch deswegen so erfolgreich machen, weil seine Mitarbeiter und Kunden ihm und seinen technischen Visionen vertrauten.
Negative und positive Hierarchien
In diesem Zusammenhang kann man Hierarchien unterscheiden, die auf politischer oder wirtschaftlicher Macht beruhen. Diese Strukturen sind nicht frei gewählt. Oft sind sie Formen von „Gewalthierarchie“, in denen eine Gruppe an der Spitze durch Macht ihre Privilegien verteidigt. Das kann auch in Hierarchien geschehen, die aus Vertrauen entstehen. Aber Vertrauenshierarchien können auch als Entwicklungshierarchie gelebt werden, die Menschen in ihrem Wachsen unterstützt. Meine Zeit in einer spirituellen Pyramidenhierarchie hat mir einerseits diese positive Wirkung gezeigt, denn wenn Vertrauen die Grundlage ist, bildet sich eine Struktur, die den Einzelnen fördert. Aber ich habe auch erfahren, dass solche hierarchischen Zusammenhänge leicht dazu neigen können, die lebendige Vielfalt zwischen Menschen und die Kreativität unterschiedlicher Perspektiven zu unterdrücken. Ein Grund dafür ist auch, dass wir heute als Individuen einen Anspruch auf Autonomie und Selbstbestimmung haben, den es so noch nicht gab, als viele der traditionellen Hierarchien entstanden.
Aber es gibt noch eine weitere Erfahrung, die mir zeigte, dass eine andere Form des Miteinanders möglich ist, und die steht zumindest zu der klassischen Pyramidenhierarchie in einem starken Gegensatz. Es ist die Möglichkeit, als Menschen jenseits unserer Egostrukturen in einem gemeinsamen, kreativen Wir-Feld zusammenzukommen, wo Vertrauen auf eine neue Art entstehen kann. Unser Misstrauen basiert immer auf der Annahme, dass wir voneinander getrennt sind. In einem höheren Wir-Feld können wir aber die Erfahrung eines gemeinsamen Bewusstseinsraums machen, der genauso real ist wie unsere unabhängigen „Ich-Räume“. In jahrelangen Experimenten mit neuen Formen des Zusammenkommens in einem bewussten Wir war es ein natürlicher Übergang, auch darüber nach – zudenken, was eine solche Kultur in konkreten Arbeitszusammenhängen bedeutet. Wie verändert sich in diesem Zusammenhang unser Verständnis von Leadership? Können wir in der bewussten Arbeit mit Wir-Räumen ihre Dynamik, Möglichkeitshorizonte und organische Struktur dafür verwenden, ein neues Verständnis von Leadership zu entwickeln?
Evolutionäre Organisation
In dieser Zeit traf ich Richard Hawkes, einen der weltweiten Pioniere einer neuen Organisationskultur, der mit seiner Beratungsfirma Growth River ein evolutionäres Organisationsmodell entwickelt hat. Als er mir davon erzählte, spürte ich viele Gemeinsamkeiten zu den Qualitäten, die ich in Erfahrungen eines höheren Wir erlebt hatte. Und so wie ich war auch er in der Beratung von Unternehmen an die Grenzen der klassischen Pyramidenkultur gestoßen.
Richard Hawkes spricht in seiner Arbeit von mehreren Stufen, die Organisationen durchlaufen, wenn sie sich zu ihrem eigentlichen Potenzial entwickeln wollen. Meistens fangen wir als eine Gruppe von Einzelkämpfern an, die sich irgendwie zusammenraufen. Um besser zusammenarbeiten zu können, entwickelt sich oft ein Zentrum, das alle anderen Bereiche organisiert. Das führt dann zu einer direktiven Struktur, die meist als Hierarchie gestaltet ist, und viele Organisationen bleiben in dieser Struktur. Eine ganz neue Möglichkeit entsteht aber, wenn alle Teile einer Organisation wissen, welche Rolle sie in der Organisation haben, und gleichzeitig mit der Lebensaufgabe der Organisation als Ganzes verbunden sind. In dem Maße, in dem alle Beteiligten dieses doppelte Verständnis von Teil und Ganzem entwickeln und daraus gemeinsam handeln, wird die Organisation zu so etwas wie einer „selbstbewussten“ Organisation. Das deckte sich mit meiner Erfahrung, dass wir einen Wir-Raum wirklich als solch ein lebendiges „Wesen“ erleben können.
Inspiriert von dieser Begegnung und der Zusammenarbeit mit Richard Hawkes, in der wir zum Beispiel auch unsere Arbeit von evolve nach diesen Grundsätzen gestalteten, begann ich mich weiter nach neuen Ansätzen der Organisation umzusehen. Dabei merkte ich, dass unter den Menschen, die über neue Organisationsformen nachdenken, einige zu sehr verwandten Antworten kamen. Eine neue Wir-Kultur scheint viele innovative Denker zu beschäftigen. Vor einigen Monaten interviewte ich Frederic Laloux in unserem Webcast Radio evolve zu seinem neuen Buch. Er schilderte dort eine neue Definition von Leadership, die mich seither sehr beschäftigt. Laloux spricht davon, dass in einer neuen Form von Leadership die Führenden zugleich weniger und mehr Verantwortung tragen als in herkömmlichen Organisationen. Weniger Verantwortung deshalb, weil nicht mehr alle Entscheidungen von ihnen allein getroffen werden müssen. Gleichzeitig haben sie aber viel mehr Verantwortung als früher. Diese neue Verantwortung besteht nicht darin, Entscheidungen zu zentralisieren, sondern den kollektiven Wir-Raum so zu formen und zu unterstützen, dass Entscheidungen aus diesem gemeinsamen Raum kommen können. Die neue Verantwortung liegt also darin, einen Wir-Raum zu fördern, der es der kollektiven Intelligenz ermöglicht, gemeinsame Entscheidungen und Strategien zu entwickeln. Zudem gehört zu dieser neuen Führungsaufgabe auch, Blockaden im Wir-Raum zu sehen und möglichst aufzulösen oder zu lindern. Idealerweise fällt ein Leitungsverantwortlicher nur noch dann Entscheidungen in klassischer Form, wenn er/sie als „Feuerwehrmann/frau“ in besonderen Situationen eingreifen muss.
Ein neues Vertrauen
Ein anderer Vordenker einer neuen Organisationskultur ist Peter Merry vom holländischen Center of Human Emergence. Ich hörte einen Vortrag vom ihm auf der Europäischen Integralen Konferenz in Budapest im Mai diesen Jahres, der den Titel „Leading from the Field“ trug. Die Prinzipien, die er dabei ansprach, stimmten in vielem mit meiner Erfahrung in der Arbeit mit Wir-Räumen überein. Ein Punkt in seinen Ausführungen war, dass wir uns unseres Verantwortungsbereichs als Bewusstseinsfeld bewusst werden können. Egal ob unser Verantwortungsbereich eine Gesprächsgruppe, ein Arbeitsteam oder eine Firma ist, dieser Verantwortungsbereich ist nicht nur ein System, das ich von außen analysieren kann. Und es ist auch nicht nur ein Netzwerk von Einzelbeziehungen. Stattdessen kann man sagen: Mit all seinen Differenzierungen ist es ein gemeinsames Bewusstseinsfeld. Diese Innenperspektive erlaubt Einsichten, die wir von außen, wenn wir es lediglich als System oder als zwischenmenschliches Netzwerk analysieren, nicht erkennen.
Meine jahrzehntelange Auseinandersetzung mit Fragen der Mitbestimmung, mit Vertrauen versus Kontrolle in unserer Gesellschaft, in spirituellen Kontexten und unseren Organisationen bringt mich heute zu der Auffassung, dass wir uns am Anfang einer sehr aufregenden Entwicklung befinden. In der entstehenden Wir-Kultur stellen sich die Fragen des gesellschaftlichen Miteinanders, des Führens und Mitbestimmens neu.
Viele Vordenker beschreiben dieses neue Potenzial aus unterschiedlichen Perspektiven. Es bedeutet etwas ganz anderes, einem gemeinsamen Wir-Raum Vertrauen zu schenken, als lediglich einzelnen Führungspersönlichkeiten. Und Führen bedeutet etwas ganz anderes, wenn es nicht darum geht, allein einsame Entscheidungen zu treffen, sondern eine gemeinsame Kultur so zu gestalten, dass die kollektive Weisheit und kollektive Kreativität nicht nur schöne Begriffe sind, sondern eine lebendige Wirklichkeit.
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