Der Historische Dienst des französischen Verteidigungsministeriums öffnet einen der bestgehüteten Schätze Frankreichs: Das geheime Archiv über Aktivitäten deutscher und französischer Geheimdienste im zweiten Weltkrieg.
Der Historische Dienst des französischen Verteidigungsministeriums macht Unterlagen der Öffentlichkeit zugänglich, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter Verschluss waren. Mehr als 70 Jahre nach dem Kriegsende öffnet der Historische Dienst des französischen Verteidigungsministeriums (SHD) das Archiv über die Aktivitäten deutscher und französischer Geheimdienste während des Krieges. Akten, die Jahrzehnte lang verschlossen waren, beginnen zu sprechen.
„Wir haben erst mit der Auswertung begonnen, aber schon jetzt haben wir wesentliche Informationen über Schlüsselfiguren der Okkupation erhalten, deren Dossiers bislang unbekannt waren“, sagt Frédéric Quéguineur vom SHD. Einzelne Informationen hatte der SHD bereits im vergangenen Jahr publik gemacht, so etwa die Tatsache, dass die Modeschöpferin Coco Chanel mit der deutschen Besatzungsmacht kollaboriert hat.
Insgesamt sind 500 Archivmeter an Material des Geheimdienstes der Résistance und seiner Nachfolgeorganisationen sowie der Gestapo und der Abwehr, des Nachrichtendienstes der Wehrmacht, in den Räumlichkeiten des SHD im Château de Vincennes im Osten von Paris untergebracht. Bei einer Pressekonferenz am Mittwoch erzählte Quéguineur den abenteuerlichen Weg der Akten: „1944 und 1945 haben die Mitglieder der Résistance die deutschen Unterlagen vor der Vernichtung durch Gestapo und SD (Sicherheitsdienst) bewahrt.“
Teilweise wurden sie genutzt, um Prozesse gegen Kriegsverbrecher vorzubereiten. Die Unterlagen der französischen Dienstes, damals noch „Deuxième bureau“ genannt, wurden hinzugefügt. Schon bald schloss der heute DGSE genannte Auslandsnachrichtendienst der Republik aber die wertvollen Unterlagen weg. Die Öffentlichkeit wusste nichts mehr davon.
1986 löste der frühere DGSE-Chef Alexandre de Marenches mit einer Buchveröffentlichung einen Skandal aus: Er behauptete, das Geheimarchiv beweise, dass viele angebliche Kämpfer der Résistance in Wirklichkeit Kollaborateure der Nazis gewesen seien. Die Öffentlichkeit war empört. Rasch wird angeordnet, die fraglichen Akten dem Historischen Dienst zur Prüfung zu überstellen. Der aber stellt fest, dass es sich nur um weitgehend belanglose Papiere handelt. Der Skandal sackt wie ein Soufflé in sich zusammen.
Doch die DGSE hat nicht alles ausgepackt. Ihre wirklichen Schätze behält sie unter Verschluss. Jahre später ordnet der damalige sozialistische Premier Lionel Jospin an, der Geheimdienst solle endlich alle Unterlagen an den SHD herausrücken. Der wartet auf Lastwagen voller Akten, wird aber überrascht: Eine Lieferung ist nicht nötig. Die DGSE hat die gesuchten Papiere in einem geheimen Keller des Château de Vincennes, direkt vor der Nase der Historiker versteckt.
Die Auswertung erweist sich als schwieriger als erwartet. Denn die Mitarbeiter des SHD übernehmen nicht etwa ein sorgsam geordnetes Archiv, sondern wild durcheinander gewürfelte Unterlagen. „Die DGSE hatte die Dossiers auseinander genommen und nach einem nur ihr zugänglichen Schlüssel neu zusammengesetzt.“ erläutert Quéguineur. Karton für Karton kämpfen sich die Experten des SHD durch die Akten. „200 Meter davon haben wir mittlerweile ausgewertet“, sagt der SHD-Mann. Im Lesesaal des Historischen Dienstes in Vincennes können sie nun eingesehen werden.
Geheimdienst verhörte Nazi-Verbrecher
Die Geheimnistuerei mehr als 70 Jahre nach Kriegsende wirkt unverständlich. Doch Staatsarchive haben ihre eigene Logik, auch in Deutschland: Längst nicht alles ist frei recherchierbar. Auch im Bundesarchiv braucht man für bestimmte Bestände eine Sondergenehmigung, etwa von den Rechtsnachfolgern der Personen, die bestimmte Akten dem Archiv übermittelt haben.
In Frankreich kommt eine weitere Schwierigkeit hinzu: Nicht für alle Unterlagen gilt eine Sperrfrist von lediglich 25 Jahren. „Manche Akten bleiben 50 oder gar 100 Jahre nach dem Datum ihrer Ausfertigung verschlossen“, sagt Hélène Servant, Chefin des Centre historique des archives vom Verteidigungsministerium. Es könne „nationale oder individuelle Interessen geben, die schutzwürdig sind.“ Für einen Laien, der das Informationsinteresse der Öffentlichkeit hoch bewertet, ist das nicht leicht nachzuvollziehen. Immerhin: Man kann eine Ausnahmegenehmigung beantragen.
In der Optik des Staates sind relevante Akten alles andere als vergilbtes Papier. Wie radioaktives Material behalten sie auch Jahrzehnte nach der Herstellung noch ihre oft destruktive Kraft. In manchen Fällen ist das verständlich: Das Modehaus Chanel hat bestimmt keinen großen Wert darauf gelegt, dass die Vergangenheit der Namensgeberin bekannt wurde.
Manche Strukturen oder Aktivitäten der eigenen Dienste will der Staat nicht bekannt werden lassen, weil sie vielleicht eine völlig neue politische Sichtweise ergeben. Doch gerade das macht die Relevanz der Unterlagen aus. Hält man solche Unterlagen in der Hand, spürt man fast körperlich die Faszination, die davon ausgeht. Die Vergangenheit ist nicht vergangenen, sie wird in der Hand lebendig.
Die Mitarbeiter des SHD legen am Mittwoch in drei Sälen des Schlosses von Vincennes ein Maß an Transparenz an den Tag, das seinesgleichen sucht. Auf mehreren Tischen liegen bemerkenswerte Dokumente, die man lesen und durchblättern darf: Berichte über Coco Chanel und eine Karte, mit der ihre Spionagetätigkeit nachgewiesen wurde.
Akten der Gestapo Marseille wie ein Buch mit Tagesberichten, die zum Teil angesengt sind und mühsam wiederhergestellt wurden – beim Durchblättern sieht man schnell, wie viele Widerstandsakte der Résistance es tatsächlich gab. Ein komplettes Verhörprotokoll der Gestapo-Größe Roland Nosek, der nach der deutschen Besetzung Frankreichs als einer der ersten Mitarbeiter von SD-Chef Reinhard Heydrich nach Paris einrückte, um die Repression zu organisieren und geflohene deutsche Oppositionelle ausfindig zu machen; Verpflichtungserklärungen von Franzosen, die für die Gestapo arbeiteten.
Die Gestapo musste nicht bei null anfangen, als Frankreich besetzt wurde. „Nosek und andere hatten nicht nur Agenten vor Ort, sondern auch freundschaftliche Kontakte zu manchen Mitarbeitern der französischen Polizei.“ sagt Thomas Fontaine, einer der Historiker, die beim SHD arbeiten. „Die haben sie 1940 und später genutzt, um die Leute ausfindig zu machen, hinter denen die Nazis besonders her waren: Sozialdemokraten, Kommunisten, engagierte Katholiken und Juden.“
Was in Deutschland wenig bekannt ist: Nach dem Krieg verhörte der französische Geheimdienst auch in Deutschland die Nazi-Verbrecher, an die er herankam. Dabei ging es nicht nur um die Vorbereitung von Prozessen, sondern auch um Herrschaftswissen: „Die gewonnenen Erkenntnisse wurden in den französischen Diensten auch genutzt, um junge Agenten zu schulen.“ Wie man ein Spionagenetzwerk aufbaut oder ein gegnerisches infiltriert, das waren hoch willkommene Informationen. Deshalb gab es nach dem Krieg „ein Wettrennen zwischen den Alliierten um deutsche Geheimdienstmitarbeiter“.
Akten von kollaborierten SS-Offizieren
Viele Nazi-Verbrecher konnten dadurch ihrer gerechten Strafe entgehen. Der bekannteste Fall ist der des Judenjägers Klaus Barbie, der während des Krieges in Lyon und Umgebung sein brutales Regime führte. Um seine Haut zu retten, bot er sich nach der deutschen Niederlage den Amerikanern an und wurde genommen. Sie verschafften ihm eine neue Identität, mit der er bis 1983 unbehelligt in Südamerika lebte.
Ein anderer Fall wurde am Mittwoch vorgestellt: der von Hans Sommer. Der SS-Mann war an der Repression in Frankreich beteiligt, sein Parcours ist besonders bunt: Nach dem Krieg arbeitete er für die französischen Dienste, wurde zeitweilig vom amerikanischen OSS angefordert, kehrte dann nach Deutschland zurück, wo er für den Bundesnachrichtendienst tätig war und für die Stasi. Seine Stasi-Akte soll 22.000 Seiten umfassen.
Hat sich nun der Verdacht bestätigt, dass bekannte Mitarbeiter der Résistance in Wahrheit Kollaborateure waren? Ein Experte des SHD verneint, weit aber darauf hin, dass man Dossiers „besonders prominenter Franzosen wie die von François Mitterrand vergeblich gesucht habe“. Mitterrand arbeitete zunächst für das Vichy-Regime, bevor er sich dem Widerstand anschloss.
Fontaine äußert sich etwas anders – und wirbt dafür, die Umstände der Besatzungszeit nicht zu vergessen. „Wir haben Fälle von wichtigen Mitgliedern der Résistance gefunden, die später wichtige Zuträger der Gestapo wurden: ganz einfach weil die Nazis ihre Frau und Kinder hatten und sie damit erpressten.“
Besonders interessant sei, wen die Nazis teilweise Monate lang verhört und trotzdem nicht gebrochen hätten: „Ein Kommandeur der Résistance hat den Namen seines Stellvertreters verheimlichen können, er wurde bis Kriegsende nicht enttarnt.“ Gemeinsam mit der Uni Trier arbeitet der SHD nun an der weiteren Auswertung der Akten. Ein Beispiel dafür, dass deutsch-französische Zusammenarbeit funktionieren kann.
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