2015-12-28

GRACE – eine Kraft, die stärker ist als Gewalt


Aufgerüttelt vom drohenden Krieg gegen den Iran 2005, mit der Frage, was ein einzelner Mensch tun kann, um kommende Kriege zu verhindern, entschließt sich Sabine Lichtenfels zu einer halbjährigen Pilgerreise von Deutschland in Richtung Israel/Palästina. Sie geht weite Strecken zu Fuß und ohne Geld, besucht Friedensgruppen, hält Vorträge, beteiligt sich an Meditationen und nimmt sich Zeit für die unterschiedlichsten Menschen, die sie unterwegs trifft. Sie entdeckt dabei eine Kraft, auf die sie sich immer mehr verlassen kann: GRACE.



GRACE ist ein Zustand hoher Energie und Humanität, verbunden mit politischer Handlungskraft. In Israel/Palästina angekommen, leitete ich eine 40- köpfige internationale Pilgergruppe zu Fuß durch den Norden Israels und in die Westbank, durch Flüchtlingslager, Siedlungen, Militärcamps und entlang der Mauer. Die bewegenden Erlebnisse der Gruppe sind Lehrbeispiele für die Wirkungsweise von GRACE. Der folgende Text beschreibt dieses Prinzip.

Die Pilgerreise sollte uns nach Israel-Palästina führen, in das sogenannte heilige Land, eine Region, die seit langer Zeit von Krieg, Konflikten, Kampf und Trennung bestimmt ist. Sollte eine Pilgerreise in diesem Land im Sinne der inneren und äußeren Friedensarbeit erfolgreich sein, bräuchten wir eine spirituelle Quelle, die uns auch in schwierigen Situationen richtig und heilend handeln ließ. Auf der Suche nach einem Namen für die Pilgerschaft stießen wir auf den Namen GRACE.

GRACE hat viele Bedeutungen und umfasst mehr als das Wort Gnade im Deutschen: Gunst, Anmut, Charme, Bereitwilligkeit, Entgegenkommen, Nachsicht, Grazie. Grace bezeichnet auch den Akt der Gnade selbst. GRACE erinnert mich daran, dass ich im Dienste einer höheren Sache unterwegs bin, im Dienste des Lebens und seiner Gerechtigkeit. Diejenigen, die im Namen von GRACE unterwegs sind, kommen nicht, um zu richten. Sie kommen nicht, um dem Land oder dem Ort oder den Menschen neue Ideologien überzustülpen, sondern sie kommen im Dienst der Öffnung, der Wahrnehmung und Unterstützung. GRACE bringt eine Verpflichtung mit sich, den Krieg nicht zu schüren, sondern zu beenden, wo immer du bist. Im Namen von GRACE bin ich immer auf der Suche nach einer gewaltfreien Lösung: einer Lösung, die Gerechtigkeit und Heilung schafft und allen Beteiligten dient. Dazu ist niemals Verurteilung, manchmal aber ein klares Urteil nötig. GRACE sagt: Ich bin gewillt, den Krieg zu beenden und zu verstehen, wodurch er beendet werden kann, und ich stelle mich in den Dienst dieser Lösung.


Wie reagierst du, wenn du dich ungerecht behandelt fühlst?

Wie tief du diesen Entschluss schon getroffen hast, kannst du daran prüfen, wie du reagierst, wenn du meinst, dass dich jemand verletzt oder ungerecht behandelt hat. Nur allzu schnell sind wir bereit, unsere Entschlossenheit zum Frieden zu vergessen und in den kleinen oder großen Krieg einzutreten.

Dazu nur ein kleines, humorvoll gemeintes Beispiel: Wenn du zu hören bekommst, dass man den Wagen eines fernen Bekannten gestohlen hat, nimmst du es vermutlich relativ gelassen hin. Wenn du hörst, dass das Auto deines besten Freundes gestohlen wurde, bist du vermutlich schon mehr aus der Ruhe zu bringen, aber vielleicht noch gelassen genug, um ihm ein paar weise Ratschläge zu erteilen. Wenn dein eigenes, heiß geliebtes Auto gestohlen wurde, ist es vermutlich für einige Zeit vorbei mit dem inneren Frieden. Die tiefgreifenden Weichenstellungen spielen sich auf ganz anderen Stockwerken des Bewusstseins ab. Wir können aber mehr über die Zusammenhänge im Großen verstehen, wenn wir im Kleinen gelernt haben, Zeuge unserer selbst zu sein. GRACE ist nicht vom Menschen gemacht. GRACE verweist immer auf die höhere Ordnungsebene des Lebens selbst. Nicht ich, das Leben selbst möge richten. Wo auch immer ich bin und hinkomme, ich lege zunächst einmal meine Voreingenommenheiten und Vorurteile zur Seite. Ich komme nicht mit vorgefassten Meinungen, wer der andere ist oder nicht ist, ich mache diese Meinungen nicht zum Maßstab für mein Handeln.

GRACE: sich ins Gegenüber hineinversetzen

Auf meiner gesamten Pilgerschaft habe ich mich immer wieder darin geübt, in jedem Menschen den Christus zu sehen, egal, wo ich hinkomme: Als Erstes suche ich den Menschen auf, der gerade mein Gegenüber ist, und lasse mich von seiner Geschichte berühren. Dazu verankere ich mich so weit wie möglich ganz in diesem Augenblick. Immer wieder stelle ich mir vor, dass der andere, der mir gerade gegenüber sitzt, auch ich sein könnte. Ich könnte eine Siedlerin sein, eine Palästinenserin, eine junge Israelin, die gerade ins Militär eintritt. Ich könnte der Soldat sein, der gerade mit Tränengas auf die palästinensischen Kinder geschossen hat.

Hinter all den Rollen und Masken der Entfremdung suche ich den Menschen in seinem Kern. Diese Art der Gegenwärtigkeit gelingt keineswegs immer. Wie oft war ich empört über die Weltanschauung, die mir da entgegengebracht wurde, zum Beispiel von einem extrem gesinnten Rabbi oder einem fanatischen Moslem. Oder wie oft entdeckte ich in meinem Innern Abwehr und reagierte mit Widerwillen auf die nicht endenden Anklagen und Leidensgeschichten der Palästinenser in der Westbank oder auf die fanatischen Reden eines Siedlers.

GRACE verlangt nach Selbsterkenntnis. Und diese Selbsterkenntnis ist nicht immer leicht. Fehler bei anderen zu entdecken ist um vieles angenehmer und leichter, als sich selbst zu enttarnen. Als ich vor einem jungen Offizier saß, der mit voller Überzeugung die ideologischen Werte seines Staates erklärte, wollte in mir alles aufschreien vor Wut und Empörung. Dann fiel mir plötzlich ein: Er könnte dein Sohn sein. Und sofort sah ich den Menschen. Das ist der erste Schritt, der Öffnung schafft. Jetzt kommt es darauf an, ob ich in der Lage bin, ihm angstfrei die Wahrheit zu sagen, die ich sehe. Hier geschieht GRACE.

Ich lasse mich berühren und versuche zu berühren. Wenn immer es mir möglich ist, betrete ich jeden Ort mit geöffnetem Herzen. Das ging mir bei den Soldaten oder Offizieren genauso, wie es mir bei palästinensischen Bauern oder Farmern erging oder bei den Siedlern. GRACE kommt aus der Kraft und der Verbundenheit mit der Quelle des Lebens.
Weltbilder: Schutz vor wirklicher Berührung

Man darf dies nicht verwechseln mit einer ängstlichen Haltung, in der man sich nicht getraut zu sagen, was man sieht und die Ungerechtigkeiten beim Namen zu nennen. Im Zustand von GRACE verurteile ich nicht, aber ich habe den Mut, die Wahrheit zu sagen. Ich möchte die Wahrheit so sagen, dass sie den anderen erreicht und verändert, und nicht, um Recht zu haben und damit den Krieg weiter zu schüren.

In unserer alltäglichen Wirklichkeit schotten wir uns gegen beide Seiten ab, sowohl gegen die Wahrheit des Opfers, als auch gegen die Seite des Täters, und stülpen sofort unsere Weltanschauung darüber. Hauptsache, unser Weltbild stimmt. Das ist unser Schutz vor wirklicher Berührung. Nur weil wir schon so verschlossen sind, können wir überhaupt noch die Nachrichten ertragen. Wir sind erleichtert, wenn wir die Guten und die Bösen unterscheiden können.

Dann leben wir unser gepflegtes Alltagsleben, und wenn wir irgendwo einen sozialen Aspekt in unserem Leben eingebaut haben, halten wir uns für gute Menschen. Auf diese Weise entsteht der schleichende Faschismus unserer Zeit: die Gleichgültigkeit. Die Menschen verschließen ihre gut bürgerlichen Haustüren vor der Realität. Sie tun es, bis auch sie plötzlich erfasst werden von der Welle des wahren Lebens, das sie immer unterdrückten und das sich durch die Unterdrückungen jetzt von seiner grausamsten und gewalttätigsten Seite zeigt.

Nicht das Leben selbst ist grausam, aber das unterdrückte Leben erscheint grausam und gewalttätig. Es zeigt sich in den Ehekrisen, in Krankheit, steigender Selbstmordrate, psychischen Erkrankungen, Alkoholismus oder sonstigen Erscheinungsformen. Bis wir erwachen. GRACE erinnert uns daran, dass hinter dieser schrecklichen Dimension unserer Kultur, die bald keine Auswege mehr zu bieten scheint, eine andere Wahrheit und Wirklichkeit waltet. Es ist eine sehr einfache Wahrheit, die überall dieselbe ist.

Die Wahrheit – jenseits von Deutungsebenen

Wir vergessen bei unserer Meinungsbildung fast immer, dass wir uns auf einer Deutungsebene befinden. Die Wahr – heit liegt jenseits aller Meinungen. Die Wahrheit unterscheidet sich von Ideologien dadurch, dass sie schlicht und einfach wahr ist.

Es war erschütternd für mich zu sehen, dass der Konflikt in den meisten Fällen immer neues Feuer erhielt durch die Weltanschauungen und Überzeugungen, die man sich um die Ohren ballerte. Aus unserer Angst vor der Wahrheit des Lebens erklären wir unsere Meinungen und Ansichten zur Wahrheit, für die wir bis zum Letzten kämpfen; so entsteht der psychologische Krieg, der schließlich im realen Krieg mündet. Wir halten für wahr, was mit Wahrheit nichts zu tun hat. Es sind die Geschichten unserer Sozialisation, mit denen wir uns identifizieren.

Du schaust auf einmal in den verzerrten Spiegel einer Menschheit, die sich von ihren Wurzeln getrennt hat. Überall schaust du in dasselbe Grundmuster von Angst, Wut, Ohnmacht und Verletztheit und dem daraus resultierenden Krieg mit seinen zerstörerischen Racheakten. Es ist das unterdrückte Leben selbst, das, um überleben zu können, die Rache wählt.

Hier nutzen keine moralischen Appelle. Du musst dir nur einmal vorstellen, dein Kind würde vor deinen eigenen Augen getötet. Ist nicht dein erster und stärkster Impuls die Rache? Du siehst es überall in mehr oder weniger schlimmen Formen, aber das Grundmuster ist überall dasselbe. Es offenbart sich hinter allen Ideologien, hinter allen Religionen, hinter allen Weltanschauungen; wir sind alle gleichermaßen Opfer der imperialistischen Kultur geworden. Und hinter dieser rollenden Lawine, die hinwegrast über die Krisengebiete dieser Erde und die die Erfahrung des Schmerzes in die Geschichte von Opfern und Tätern schreibt, hinter all diesem triffst du überall auf denselben Hunger. Hunger nach Leben, Hunger nach Liebe, Hunger nach Vertrauen und Heimat, Hunger nach Anerkennung, Hunger danach, gesehen und verstanden zu werden. Dieser Hunger ist unabhängig von jeder Kultur. Er ist einfach da. In jedem Menschen, so wahr er noch Mensch geblieben ist.
Öffnungen für den Schrei nach Leben

Wenn ich im Namen von GRACE unterwegs bin, versuche ich in erster Linie, die Menschen zu treffen und mich von ihnen berühren zu lassen und nicht von der Weltanschauung, die sie vertreten. Wenn unsere Treffen mit Weltanschauungsdebatten begannen, war alles verloren. Niemand hörte mehr zu, stattdessen begann ein emotionales Tohuwabohu. Die Begegnungen verliefen vollkommen anders, wenn die menschliche Berührung stattgefunden hatte. GRACE erinnert dich immer daran.

GRACE ist wie eine bewusst gewählte Naivität, die dir hilft, dich nicht in dem Meer von Weltanschauungen zu verirren und hinter allem die elementare und einfache Wahrheit zu sehen und zu hüten. Du schaffst Öffnungen für den Schrei nach Leben.

Du siehst den kollektiven Schmerzkörper vor dir, der den Juden ihr fürchterliches Schicksal bescherte. Du siehst den Kollektivwahn der Deutschen darin, die bis heute als Volk nicht in der Lage waren, ihre Vergangenheit wirklich zu sehen und zu heilen. Du siehst die Folgen einer falsch gelaufenen patriarchalen Religion und Kultur, zu der die Kriege gehören wie das Naturspektakel eines fantastischen Gewitterhimmels zum Wettergeschehen, und das seit Tausenden von Jahren.

Die Geschichte von Opfern und Tätern und die Identifizierung mit ihnen müssen beendet werden. Hier wartet die Welt – geschichte auf die große Transformation, das große Erwachen. GRACE erinnert dich immer daran, dass diese Wandlung nicht aus eigener Kraft geschehen kann. GRACE erinnert dich an die Heiligkeit des Lebens selbst in jedem Augenblick. GRACE erinnert dich daran, dass es einen Ausweg aus der Sackgasse nur geben kann, wenn es menschheitlich gelingt, zurückzukehren zu den wahren Grundlagen des Lebens und der Liebe, des Vertrauens und der Wahrheit. GRACE ist die Kraft des langen Atems, der durchhalten kann, weil er am Horizont der Geschichte eine neue Morgenröte sieht, eine paradiesische Kultur der Liebe und der Nächstenliebe, eine Kultur, die Unterschiede achtet und doch ihre einheitlichen Werte des Lebens anerkennt. GRACE ist wie die Nabelschnur, die uns mit dieser Vision verbindet und uns schon jetzt aus ihrem Geist, aus ihrer Neuheit, Fülle und Schönheit handeln lässt.

Quelle: https://www.sein.de/grace-eine-kraft-die-staerker-ist-als-gewalt/

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