2017-09-30

Was spirituelles Erwachen wirklich bedeutet

Von Christopher Wallis auf tantrikstudies.squarespace.com; übersetzt von Taygeta


Was zum Kuckuck ist denn spirituelles Erwachen wirklich? Ich werde es unten auf vier Arten definieren, aber vorweg muss ich folgendes sagen:

Wenn du nicht selbst durch den Erwachungsprozess gegangen bist, zumindest zum Teil, wirst du sehr wahrscheinlich ,spirituelles Erwachen’ als Mythos betrachten, oder einen Köder, der dir von einem Guru, der dein Geld will, unter die Nase gehalten wird, oder ein Weg für sich selbst wichtige nehmende spirituelle Typen, damit sie ihr Ansehen erhöhen können – oder bestenfalls eine Möglichkeit, eine aussergewöhnliche Erfahrung zu verherrlichen.

Aber in Wahrheit hat nichts von diesen Dingen etwas mit echtem Erwachen zu tun. Es ist kein Gipfel-Erlebnis; es ist überhaupt keine spezifische Erfahrung (obwohl es natürlich auch durch Erfahrungen begleitet werden kann). Es ist eine komplett andere Art von Ding (oder besser gesagt, es ist gar nichts).



Aber was ist denn ein Erwachen, wenn es keine Erfahrung ist?

Es ist ein Paradigmenwechsel, der die Art und Weise, wie du das Leben erlebst, neu ausrichtet. Es kann aber muss nicht ein erfahrungsmässiges Element bei diesem Paradigmenwechsel beteiligt sein, es spielt absolut keine Rolle.

Ein spirituelles Erwachen, das von Feuerwerk begleitet wird und spirituelles Erwachen, das von nichts begleitet wird, das du ‚nach Hause schreiben könntest’ (was viel häufiger der Fall ist) ist genau dasselbe in Bezug auf das, wohin es dich bringt.

Aber wohin bringt es dich? In westlichen Abhandlungen ist das Erwachen fälschlicherweise mit der „Erleuchtung“ in Zusammenhang gebracht worden, was verbunden ist mit einer Art von mystischem Download von Wissen oder Weisheit.

Während im spirituellen Verständnis es scheinen mag, dass die erwachte Person etwas kennt oder etwas hat, das der nicht erwachte Mensch nicht hat – wobei es tatsächlich genau umgekehrt ist.

Spirituelles Erwachen bedeutet, etwas zu verlieren – speziell deine tief konditionierten Überzeugungen darüber, wer du bist und was die Welt ist – und dabei ist nichts zu gewinnen.

„Erwachen“ selbst ist natürlich eine Metapher. Da keine menschliche Sprache ein angemessenes Wort für diesen Paradigmenwechsel hat, verwenden wir (Lehrer der asiatischen spirituellen Traditionen) die Metapher des Aufwachens aus einem Traum, weil es sich so anfühlt.

Obwohl es stimmt, dass jemand entweder wach ist oder nicht, gibt es doch auch verschiedene Varianten ­– oder manche würden sagen verschiedene Stufen – im Erwachungsprozess. Hier sind diejenigen, die ich identifizieren konnte, klar präsentiert und ohne Fach-Jargon.

1. Aufwachen aus dem gesellschaftlich konstruierten Selbst: das heisst aufwachen aus dem Glauben, dass deine Gedanken, Erinnerungen, Selbstbilder oder „Geschichten“ dich definieren, beschreiben oder begrenzen. Mit anderen Worten: Aufwachen aus dem Traum, dass der Inhalt des Denkens etwas mit dem zu tun hat wer (oder was) du grundsätzlich bist.

Das beinhaltet, dass es keinen deutlichen Hinweis auf einen „Ich“-Gedanken gibt, und das heisst, dass das Konzept des ‚Ich‘ auf nicht anderes als auf etwas Angefertigtem, schlecht Definiertem beruht und auf ein nebulöses und widersprüchliches Bild des Selbst hindeutet; es ist eine Idee oder ein Gedanke von ‚mir‘, der zuoberst sitzt und der das tiefere Wesen [mein Höheres Selbst] verschleiert. (Obwohl ‚Ich‘ auch auf das reine Wesen verweisen kann, doch ist dies nicht die Bedeutung, mit der die meisten Menschen das Wort verwenden.)

Im echten spirituellen Erwachen sind das alles erlebnismässige Erkenntnisse, nicht konzeptionelle, weshalb dies so schwer in Worte zu fassen ist.

2. Aufwachen aus überdeckenden Konzepten – das heisst, dass man nicht mehr seine Konzepte über bestimmte Dinge auf die jeweiligen Dinge projiziert. Dies ist einfach eine natürliche Erweiterung von Punkt 1 von oben.

Für die meisten Menschen braucht es eine lange Zeit, um aus der Gewohnheit herauszukommen, dass man die Dinge und Erfahrungen mit eigenen Konzepten und Interpretationen überlagert. Aber wenn man die entsprechenden Erkenntnis-Fäden bis zum Ende verfolgt, dann führt das unweigerlich zu diesem:

3. Aufwachen aus dem Traum der Abspaltung.

Indem du den Glauben vollständig aufgibst, dass die Gegenstände (und Menschen) von dir selbst getrennt sind, erweckst du in dir die Wahrheit der nahtlosen Einheit mit allem, was ist.

Obwohl diese besondere Version, dieses Stadium des Erwachens oft verherrlicht wird, ist es in Wirklichkeit nicht mystisch oder so etwas. Es ist nur ein klares Erkennen, ein Sehen ohne den Filter des konditionierten Verstandes (ja, dies ist tatsächlich möglich – sonst wären die meisten asiatischen spirituellen Traditionen in einem zentralen Punkt ihrer Lehre falsch).

Es ist nicht so, dass du die Einheit (mit allem) erreichst; du erkennst einfach, dass du niemals von irgendetwas getrennt warst.

4. Aufwachen aus dem Glauben an eine objektive Realität, hier definiert als die imaginäre Existenz eines Universums von materiellen Objekten, mit unabhängigem Kerngehalt, das unabhängig ist vom Beobachter.

Das Ganze ist zu schwierig und subtil, um hier erklärt zu werden, und als gelebte Erfahrung (eher als ein Konzept) ist es sicherlich noch eigenartiger als es hier klingt.

Bezug nehmend auf einen früheren Blog-Beitrag von mir kann man sagen, dass Matthew Remski falsch liegt, wenn er sagt, dass das Wort „wach“ nichts Neues sagt, denn „Man kann wach sein und dabei immer noch ein Trottel sein, oder man kann wach sein und integriert sein“– denn spirituell gesehen gibt es ohne Erwachen nichts zu integrieren.

Erwacht sein bezieht sich nicht einfach nur auf eine weitere Interpretation der Realität, damit man sich mit all seinen anderen Geschichten integriert, sondern es ist ein Paradigmenwechsel, der Interpretationen auslöscht und dich in eine absolut unbeschreibliche Art des Seins hineinführt, in der das einzig wahre „Wissen“ darin besteht, nicht mehr zu wissen, was du gedacht hast, dass du es wüsstest.

Es ist eine direkte Intimität mit absolut Allem, frei von der Notwendigkeit, es zu verstehen oder zu deuten, und frei von dem Impuls, es zu akzeptieren oder abzulehnen (einschliesslich deiner eigenen Gedanken!). Es ist der Prozess der Integration dieser Stadien des spirituellen Erwachens, der am gründlichsten lebensverändernd ist.

Bis dahin kannst du, je nach der „Stärke“ deines Erwachens, zwischen deiner neuen Wahrnehmungsweise und der alten hin und her schwingen, und die alte Verhaltensweise kann sich in gewissen Fällen sogar dauerhaft zurück behaupten.

Noch wichtiger ist, dass vor der Integration, dein spirituelles Erwachen dein Verhalten nicht wesentlich verändern wird, oder jemand anders davon profitieren wird.

Remski argumentierte, dass der Begriff des „Erwachens“ die Menschen in zwei Kategorien einteilt: zur Masse der Menschen gehörend oder nicht.
Ja, so scheint es, aber hier gibt es ein Problem: Wenn das erwachte Bewusstsein (Sanskrit bodha, bodhi, prabuddha, etc.) wirklich eine Sache ist und tatsächlich ein anderes Paradigma des Seins darstellt, wie können wir dann eine solche Unterscheidung vermeiden?

Und wenn eine Unterscheidung besteht, werden die Menschen die Geschichte kreieren, dass es besser ist, das eine oder das andere zu sein. Die Ironie hier ist allerdings, dass jede erwachte Person weiss, dass das Erwachtsein keine Überlegenheit oder einen Vorteil gegenüber anderen bedeutet. Es ist in keiner Weise eine „bessere“ Sache, so zu sein, obwohl viele finden, dass es freudvoller und / oder frei macht.

Es stimmt aber, dass jemand, der kein spirituelles Erwachen erlebt hat, nicht sinnvoll darüber sprechen kann. Das bedeutet nicht, dass dadurch Exklusivität geschaffen wird, genauso wenig, wie Exklusivität geschaffen wird, wenn man sagt, dass jemand, der nie eine Mango geschmeckt hat, nicht sinnvoll darüber reden kann.

Wenn es wahr ist, dass jemand entweder erwacht ist oder es nicht ist (obwohl es natürlich unterschiedliche Grade des Erwachtseins gibt), und dass es keine Möglichkeit gibt zu wissen, wie es ist, erwacht zu sein, bis du es für dich erlebt hast, wie kann man dann sprachlich darüber sprechen, ohne dass manche Leute die Sprache als etwas Ausschliessendes sehen? Wie können wir darüber reden, ohne dabei Projektion auf den Plan zu rufen? Ich weiss es wirklich nicht. Wenn du eine Idee dazu hast, bitte schreibe es als Kommentar unten diesen Beitrag.

Wenn Leute, die über spirituelles Erwachen gehört haben und das Verlangen haben, dass es auch mit ihnen geschieht, ist das in Ordnung. Aber sie mögen bei diesem Wunsch das gleiche Gefühl von Machtlosigkeit spüren wie jemand, der die Erde aus dem Weltraum sehen möchte, oder jemand, der das Tiefsee-Tauchen erlernen will.

In beiden Fällen brauchen sie Hilfe, um es zu erreichen, sie brauchen einen Lehrer oder Trainer dazu. Deswegen muss man keine Scham empfinden, und es gibt auch keine Notwendigkeit für irgendwelche Macht-Spiele dabei. (Mit Betonung auf das Wort „Notwendigkeit“ – sie treten leider auf, aber sie müssen nicht geschehen, sie gehören nicht zur pädagogischen Struktur, wie Remski zu denken scheint.)

Nachdem dies alles gesagt wurde, soll erwähnt werden, dass Matthew absolut richtig liegt, wenn er sagt, dass dieses Wort „spirituell erwacht“ – wenn diese Behauptung aufgestellt wird – in bestimmten „spirituellen“ Kreisen eine Art Sozialkapital beinhaltet, und dieser Begriff in diesen Kreisen mit komplexen Fragen der Übertragung und Gegenübertragung verbunden ist .

Sozialkapital kann immer zum Gutes oder Schlechten genutzt werden. Das ist auch der Grund, warum Leute, die durch den Erwachungsprozess gegangen sind, sich selbst wahrscheinlich nicht als „erwacht“ bezeichnen werden, oder ­– Gott behüte – als „erleuchtet“. (Obwohl es seltene Ausnahmen von dieser Regel gibt.)

Und Matthew liegt auch richtig, wenn er meint, dass wir uns nicht darum kümmern sollten, ob jemand erwacht ist oder nicht – weil wir das nicht mit Sicherheit wissen können.

Abschliessend hoffe ich, dass diese klaren Definitionen des spirituellen Erwachens ein Schritt in Richtung der „informierten Zustimmung“ sind. Wenn man sich für einen Unterricht entscheidet, ist es wichtig zu wissen, wofür man sich anmeldet, sonst ist „Zustimmung“ bedeutungslos. Und deshalb habe ich diesen Beitrag geschrieben. Natürlich bleibt das Problem immer noch, dass Wörter diese alternativen Paradigmen weniger gut beschreiben als sie irgendeine Philosophie oder Religion beschreiben können, denn diese Paradigmen sind nicht begrifflich definiert. Das heisst, sie entstehen nicht durch etwas, das auf einem Glauben beruht.

Nachdem ich das alles gesagt habe, sollte ich klarstellen, dass es keinen Grund gibt, dass jemand sich für ein spirituelles Erwachen interessieren sollte – ausser es geht nicht anders.

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