2015-10-16

Was wir zurzeit erleben, ist eklatantes Staatsversagen

Es gibt Werte, die man mit Blick auf die großen Traditionen von der Antike bis zur Aufklärung mit gutem Grund und im besten Sinne als europäische Werte bezeichnen kann. Demokratie, Solidarität und auch Gerechtigkeit gehören dazu. Wie wenig die Europäische Union mit solchen Werten zu tun hat, zeigt sich in der Flüchtlingskrise besonders krass.


Europäische Einigkeit besteht gegenwärtig eigentlich nur darin, mehr in die Abschottung der EU-Außengrenzen zu investieren – ein Konjunkturprogramm für die Stacheldrahthersteller und für die Schleusermaffia statt einer verantwortungsvollen europäischen Flüchtlingspolitik.

Natürlich weiß jeder, daß die Lösung nicht darin liegt, die vielen Millionen verzweifelten Menschen, die weltweit auf der Flucht vor Krieg, vor Bürgerkrieg und vor Terror sind, n die EU oder gar nach Deutschland zu holen. Aber gerade deshalb wäre es endlich an der Zeit, über die Beseitigung von Fluchtursachen nicht nur zu reden, sondern endlich auch real etwas dafür zu tun, daß es auf dieser Welt weniger Krieg, weniger Bürgerkrieg und weniger Terror gibt.

Die Vereinigten Staaten haben ihre Öl- und Gaskriege immer mit Beteiligung europäischer Länder geführt. US-Drohnen morden mit logistischer Unterstützung aus Deutschland. Die Saudis führen ihren Krieg im Jemen unter anderem mit deutschen Waffen. Es ist doch zutiefst verlogen, über die Beseitigung von Fluchtursachen zu reden und gleichzeitig die Waffenexporte ausgerechnet nach Saudi-Arabien zu verdreifachen. So bekämpft man Fluchtursachen nicht, sondern so macht man glänzende Geschäfte mit ihnen.

Die hundertste Wiederholung Ihres „Wir schaffen das“, Frau Bundeskanzlerin, hilft dem Bürgermeister einer Gemeinde unter Haushaltsnotstand, der eine winterfeste Unterbringungsmöglichkeit für die Flüchtlinge braucht und schon überlegt, in welchen anderen Bereichen er dafür kürzen muß, nicht. Wir erleben zurzeit doch ein eklatantes Staatsversagen, und jetzt rächt es sich, daß die politischen Weichen in diesem Land seit vielen Jahren in die falsche Richtung gestellt wurden.

Es ist doch nicht erst seit dem Zuzug der Flüchtlinge so, daß bezahlbarer Wohnraum gerade für diejenigen fehlt, die kein dickes Portemonnaie haben. Das ist seit vielen Jahren so. Ein wesentlicher Grund dafür ist, daß die Kommunen durch Steuersenkungen für Reiche und Unternehmen finanziell ausgehungert wurden, sodaß viele unter diesem Druck eben ihren Wohnungsbestand verkauft haben. Das ist doch eine Realität.

Genauso ist es nicht erst seit dem Zuzug der vielen Flüchtlingskinder so, daß in diesem Land Lehrer fehlen. Schon seit vielen Jahren werden Lehrerstellen abgebaut, weil die Verkleinerung des öffentlichen Dienstes natürlich immer das leichteste Mittel ist, um im Korsett der Schuldenbremse klarzukommen.

Einige von Ihnen reden hier von Leitkultur, aber Sie schaffen es noch nicht einmal, zu verhindern, daß wegen des Lehrermangels immer mehr Deutschstunden ausfallen und viele Kinder die Schule verlassen, ohne jemals einen Zugang zu Thomas Manns Der Zauberberg oder Goethes Faust gefunden zu haben.

Dieses Bildungselend, die Wohnungsnot und auch den riesigen Niedriglohnsektor gab es schon, bevor die Flüchtlinge kamen, aber natürlich werden diese Probleme jetzt ins Extremste verschärft. Die Stimmen, die den ohnehin schon lückenhaften Mindestlohn weiter aufweichen wollen, werden immer lauter. Das heißt, die Zuwanderung soll jetzt auch noch für Lohndumping missbraucht werden. Ich finde das unerträglich. Das muß verhindert werden.

Natürlich können wir es schaffen. Deutschland ist ein reiches Land. Aber dann muß man eben auch den Mut haben, sich das Geld bei den Reichen zu holen und nicht bei den Armen.

Allein die 500 reichsten Familien in Deutschland haben ein Privatvermögen in Höhe von über 600 Milliarden Euro. Die zehn reichsten Familien kassieren zusammen Dividenden in Höhe von 2,4 Milliarden Euro im Jahr.

Aber statt solch unverschämten Reichtum höher zu besteuern, lassen Sie es zu, daß die Kosten für die Flüchtlinge als Argument dafür herhalten müssen, warum wir unsere Erzieherinnen und Erzieher in den Kitas nicht ordentlich bezahlen können. Sie lassen es zu, daß Mietern in kommunalen Wohnungen gekündigt wird, um Wohnraum für Flüchtlinge zu schaffen. Wissen Sie nicht, was Sie damit anrichten?

Frau Merkel, Sie haben mehrfach Ihre Aussage wiederholt, daß Sie Menschen in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen wollen. Aber ganz abgesehen davon, daß das freundliche Gesicht mit den geplanten Internierungslagern an der Grenze zu einer ziemlich hässlichen Grimasse zu werden droht, fragen sich auch viele: Wo war und wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber Menschen in Notsituationen hier im Land?

Wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber denen, die von Jobcentern gedemütigt und in miese Billiglohnjobs gedrängt werden? Wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber der alleinerziehenden Mutter, die ihre Kinder nur noch dank des Angebots der Tafeln satt bekommt? Wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber der wachsenden Zahl von Menschen, denen nach einem langen Arbeitsleben Armut im Alter droht?

All diese Notsituationen lassen Sie seit vielen Jahren zu – mit einem ziemlich ungerührten Gesicht. Ich erinnere Sie daran, wie viel Geld Sie über Nacht bereitgestellt haben, als deutsche Banken ins Taumeln gerieten. Heute taumeln in Deutschland Städte und Gemeinden, aber Sie hantieren mit Kleinbeträgen.

Quelle: http://schnake.square7.ch/wp/?p=12710 

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