2016-02-11

Paradigmenwechsel in der Kristallographie


Abb.: Etwas ungeordnete Kristalle aus komplexen Bio­mole­külen wie dem hier abge­bil­deten Photo­system II er­zeugen im Röntgen­licht ein kon­ti­nu­ier­liches Streu­bild (rechts, die Un­ord­nung ist stark über­höht dar­ge­stellt) aus dem sich mehr In­for­ma­tionen ge­winnen lassen als aus den Bragg-Peaks eines stärker ge­ord­neten Kristalls (links, Bild: E. Reimann, DESY)

Neue Methode ermöglicht kristall­klaren Blick auf Bio­moleküle

Ein Durchbruch in der Kristallographie ermöglicht Forschern den Zugang zu den Bauplänen von tausenden medizinisch und biologisch bedeutenden Biomolekülen. Die neue Methode, die von einem Team unter Leitung von DESY-Wissenschaftler Henry Chapman entwickelt wurde, eröffnet einen einfachen Weg, räumliche Strukturen von Proteinen und anderen Bio­mole­külen zu bestimmen, die über bisherige Verfahren in vielen Fällen nicht zugänglich waren. „Unsere Entdeckung erlaubt uns, atomare Details von großen Proteinkomplexen genau abzubilden“, erläutert Chapman.

Die räumliche Struktur eines Biomoleküls liefert wichtige Informationen über seine Funktionsweise und kann damit beispielsweise als Basis zur Ent­wick­lung eines Medikaments dienen. Um diese Struktur zu entziffern, nutzen Forscher vor allem die Technik der Kristallographie. Viele der kom­plexen Bio­mole­küle ließen sich mit bisherigen Verfahren jedoch praktisch nicht analysieren. Die neue Methode kann mit weniger geordneten Kristallen arbeiten und kommt ohne die sonst benötigten Zusatzinformationen und chemisches Vorwissen aus.

Bei der Kristallographie von komplexen Biomolekülen gibt es Hürden, durch die eine Strukturbestimmung extrem schwierig oder sogar unmöglich ist. Zum einen sind qualitativ hochwertige, besonders regelmäßige Kristalle nötig. Je stärker eine Probe vom perfekten Kristall abweicht, desto weniger Bragg-Peaks sind sichtbar. Dadurch lässt sich die Struktur oft gar nicht mehr bestimmen oder nur ein verschwommenes Abbild des Moleküls mit niedriger Auflösung erzeugen. Die meisten Biomoleküle bilden natürlicherweise keine Kristalle, und es erfordert oft großes Geschick sowie etwas Glück, hoch­wertige Kristalle aus ihnen zu züchten. Das gilt besonders für die Klasse der Membranproteine, die bei zahlreichen biologischen Prozessen eine wichtige Rolle spielen und auf die rund die Hälfte aller Medikamente zielt.

Doch selbst mit einem perfekten Kristall lässt sich eine völlig unbekannte Proteinstruktur nicht allein aus den Bragg-Peaks bestimmen. Die Phasen der gestreuten Lichtwellen müssen bekannt sein, um die Struktur des Moleküls zu berechnen. Die Phasen der einzelnen Wellen lassen sich jedoch nicht messen. Um das Problem zu lösen, sind daher weitere Hinweise nötig. Diese lassen sich aus der bereits bekannten Struktur eines chemisch eng verwandten Moleküls gewinnen oder aus dem Vergleich mit Streubildern von Kristallen chemisch leicht veränderter Moleküle. Auch diese Hürde erschwert insbesondere bei großen Molekülkomplexen wie etwa Membranproteinen die Strukturbestimmung.

Chapman entdeckte, dass das Phasenproblem und das Problem der nicht perfekten Kristalle miteinander verbunden sind. Der Schlüssel liegt in einem schwachen, kontinuierlichen Streubild, das bei unordentlichen Kristallen entsteht. Dieses kontinuierliche Streubild gilt in der Regel als störender Hintergrund. Daraus lassen sich zwar Einblicke in die Vibrationen und andere Dynamiken der Moleküle gewinnen, für die Strukturanalyse wird es jedoch normalerweise nicht berücksichtigt. Doch wenn die Unordnung im Kristall einzig daher rührt, dass die einzelnen Moleküle leicht von ihrer Idealposition im Kristall verschoben sind, bekommt der vermeintlich störende Hintergrund einen sehr viel komplexeren Charakter: Er enthält das komplette konti­nuier­liche Streubild der Einzelmoleküle im Kristall.

Würde man ein einzelnes Molekül mit Röntgenstrahlen beleuchten, würde es ein kontinuierliches Streubild ohne irgendeinen Bragg-Peak erzeugen. Das Muster wäre extrem schwach und sehr schwer zu messen. Der Hintergrund in der Analyse der DESY-Forscher ist wie eine Aufsummierung zahlreicher Einzelaufnahmen individueller Moleküle. Die Wissenschaftler benutzen den Kristall also, um eine Vielzahl gleich ausgerichteter Moleküle gemeinsam in den Strahl zu befördern. Das kontinuierliche Streubild liefert ausreichend Informationen, um das Phasenproblem direkt zu lösen, ohne dass irgen­detwas über das untersuchte Molekül bekannt sein muss.

Dieses Konzept führt zu einem Paradigmenwechsel in der Kristallographie: Die am besten geordneten Kristalle sind bei dem neuen Verfahren nicht mehr die besten für die Analyse. Am besten eignen sich leicht ungeordnete Kristalle. „Erstmals haben wir Zugang zu Streubildern einzelner Moleküle – das gab es zuvor in der Kristallographie noch nie. Dabei wissen wir seit langem, wie sich das Streubild einzelner Moleküle analysieren lässt, wenn man es denn messen kann“, so Chapman. Die Technik der kohärenten Röntgenbeugung mit Hilfe von Freie-Elektronen-Lasern hat hierzu sehr leistungsfähige Algorithmen geliefert. „Man muss nicht einmal die Chemie kennen. Aber man kann sie direkt aus den dreidimensionalen Bildern erkennen, die man bekommt.“

Um ihre neue Technik experimentell zu testen, tat sich Chapmans Gruppe in internationaler Zusammenarbeit unordentliche Kristalle eines Membran­protein-Komplexes namens Photosystem II zu untersucht, der Teil der Photosynthese-Maschinerie grüner Pflanzen ist. Die Analyse des konti­nuier­lichen Streubilds verbesserte in dem Versuch die Detailgenauigkeit gegen­über der reinen Auswertung der Bragg-Peaks unmittelbar um etwa ein Viertel. Das resultierende Bild zeigt dadurch Details des Moleküls, die sonst nur durch die rechnerische Anpassung an ein chemisches Modell sichtbar werden. Die Wissenschaftler hoffen nun, noch besser aufgelöste Bilder vom Photosystem II und vielen anderen Makromolekülen mit ihrer neuen Technik gewinnen zu können. „Diese Form der kontinuierlichen Röntgenbeugung hat man tatsächlich schon seit langem bei vielen schlecht streuenden Kristallen beobachtet“, erläutert Chapman. „Man hatte allerdings noch nicht verstanden, dass sich daraus Strukturinformationen gewinnen lassen, daher wurde sie bei der Analyse gewöhnlich unterdrückt. Wir werden jetzt viel damit zu tun haben zu prüfen, ob wir aus alten, ursprünglich verworfenen Daten weitere Molekülstrukturen gewinnen können.“

DESY / RK

Weitere Infos:
Originalveröffentlichung
K. Ayyer et al.: Macromolecular diffractive imaging using imperfect crystals, Nature 530, 202 (2016); DOI: 10.1038/nature16949
Coherent Imaging Division (H. Chapman), Center for Free-Electron Laser Science, Deutsche Elektronen-Synchrotron, Hamburg
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