2017-08-02

Interview mit Aufwachmediziner Stefan Hiene: „Mach mehr von dem, was dir Freude macht“


Wie würde eine Welt aussehen, in der wir alle in unserer höchsten Freude erschaffen, statt uns für Geld zu versklaven? Welche hinderlichen Programmierungen stehen dem im Weg? 

Der selbsternannte Aufwachmediziner Stefan Hiene erzählt in diesem Interview Julia Schneider, wie das simple Motto „Mach mehr von dem, was dir Freude macht“ sein Leben verändert hat – und über das Genie in jedem von uns.

Stefan, in deiner Aufwachmedizin sprichst du oft von Programmierungen. Was genau verstehst du darunter?

Das ist fast alles. Alles, was wir denken und was wir derzeit auf dieser Welt leben, ist programmiert. Da ist nichts oder wenig dabei, wo Menschen in ihrer natürlichen Fülle oder einfach in ihrem natürlichen Sein sind.

Eine Programmierung, die ich bei den meisten Menschen beobachten kann, ist eine Trennlinie, die wirklich pervers ist. Wenn man die erkennt – und ich meine damit, wirklich versteht, was man da tut – dann versteht man und merkt man, wie sehr man sich selbst vergewaltigt. Wir ziehen nämlich die Trennlinie: Bringt es Geld oder bringt es kein Geld?

Das ist das Absurdeste und Grauenvollste, was wir uns selbst antun können, weil wir damit die für uns als Menschen entscheidende Frage komplett ignorieren, und die heißt: Macht es mir Spaß oder macht es mir keinen Spaß?

Das ist unser inneres Navigationssystem: Wenn ich weiß, was mir Spaß macht und was mir keinen Spaß macht, dann fällt es mir relativ leicht, durch das Leben zu navigieren. Sobald ich aber diese Trennlinie einführe, bin ich sowas von auf dem falschen Dampfer. Und ich meine, schauen wir uns einfach mal um: Wer ist frei davon? Meiner Beobachtung nach sind es sehr wenige.

Was passiert, wenn wir immer mehr dem Gefühl der Freude folgen, anstatt auf das Geld zu schauen? Finden wir dann so etwas wie unsere Berufung oder Bestimmung?

Was ich aus eigener Erfahrung berichten kann, ist, dass das nicht gleich bleibt. Wir denken zum Beispiel: Ich will Künstler sein, ich will Bilder malen. Dann fängst du an, Bilder zu malen, und machst immer mehr davon. Du denkst dann, das sollte mein Beruf sein und ich sollte Geld damit verdienen. Das ist wieder die nächste Falle, denn es kann sein, dass du das einfach nur machen musstest, um zu üben, wie es denn ist, wenn du etwas machst, das dir Spaß macht.

Das kann sich dann transformieren in das, was du tatsächlich machen willst und wozu du hierher gekommen bist. Das kannst du aber vorher nicht wissen, weil du von deiner Freude so weit entfernt bist, dass du gar nicht mehr weißt, was Freude ist, während man etwas macht. Du kennst nur dieses Sklaven-Dasein und die Prostitution für den Arbeitgeber. Oder auch als Selbstständiger für irgendwelche Auftraggeber, was im Prinzip das Gleiche ist.

Dieses „mehr von dem machen, was dir Freude macht“ ist vor allem ein Test, ein schrittweises Ankommen oder schrittweises Tun, damit du überhaupt erstmal wieder erlebst: Okay, das ist ja krass, also das geht wirklich. Und dann kommt die Veränderung in dein Leben auf eine Art und Weise, wie du sie dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen kannst. Allerdings muss du es bedingungslos machen. Solange du das bedingt machst und sagst: Ja, ich mache das, was mir Freude macht, aber nur, um damit auch Geld zu verdienen oder damit es gefeiert wird. Das hat keinen Wert, das bringt dich nicht weiter. Das ist nur der gleiche Stress wie vorher unter einem anderen Deckmantel.

Was hast du gemacht, um mehr deiner Freude zu folgen?

Das war mehr Radsport. Ich bin Rad gefahren wie ein Verrückter. Ich habe mich mit 37 entschieden, nochmal Radprofi zu sein. Das Schöne daran war, dass ich das einfach für mich gesagt habe und dass es egal war, was die anderen behauptet haben. Es gab auch welche, die mich dafür ausgelacht haben, die mich der Lächerlichkeit preisgegeben haben, nach dem Motto: Was willst denn du, du bist in keinem Profi-Team und du fährst auch nicht so gut, dass du dich Profi nennen kannst. Aber das haben die nicht verstanden: Ich habe das einfach nur für mich getan. Denn der entscheidende Punkt – das verstehen nur wenige Menschen – ist, dass du alles, was du tust, nicht für das Ziel tust.

Wenn du zum Beispiel sagst, ich will Radprofi oder Weltmeister sein, dann sind 99,9 Prozent davon nicht viel Geld, Ruhm, Ehre und Podiumsplatzierungen, sondern 99,9 Prozent davon ist einfach scheiß-hartes Training. Das ist die Realität. Und wenn du daran keinen Spaß hast, bringt es dir gar nichts, wenn du Weltmeister wirst. Ich sage nicht, dass es nicht möglich ist. Du kannst einfach hart dir selbst gegenüber sein und Weltmeister werden. Nur wirst du dann erkennen, dass dir das nichts gebracht hat. Du wirst weiter streben, und dann willst du Doppel- und Dreifach-Weltmeister werden. 

Das bringt dich nirgends hin.

Du merkst gar nicht, dass du dein Leben verpasst, weil du währenddessen, während des Trainings, gar keinen richtigen Spaß hast. Das ist die wichtigste Erkenntnis: Du machst es für das Gefühl, das du währenddessen hast. Wenn dein Gefühl währenddessen nicht gut ist, dann kannst du das Ziel auch in die Tonne treten, denn das hat gar keinen Wert.

Wie schaffen wir es, unserer Freude zu folgen und aus hinderlichen Programmierungen auszusteigen?

Es gibt zwei Schritte. Der erste und wichtigste Schritt für mich ist, den Widerstand aufzugeben zu dem, wie es jetzt gerade ist.

Die meisten Menschen versuchen, ihrer Freude zu folgen im Widerstand zu dem, wie es jetzt ist. Das ist fatal, das funktioniert allein schwingungsmäßig nicht. Du musst zuerst in Frieden kommen mit dem, wie es jetzt ist und wie du jetzt gerade bist. Wenn du damit nicht im Frieden sein kannst, wirst du immer vor dir davonlaufen. Dann wirst du immer sagen: Da gibt es noch irgendwo eine bessere Version von mir, und die muss ich erst finden. Du bist die aber schon. Das ist alles schon in dir. Das ist nichts Neues. Das ist nichts, wo du erstmal herausfinden müsstest, wer du bist.

Solange du im Widerstand zu deiner derzeitigen Situation bist, hast du die besten Chancen, dein ganzes Leben irgendeiner Karotte hinterherzulaufen. Du wirst immer denken, jetzt brauche ich noch Geld, jetzt brauche ich noch das, dann werde ich glücklich sein. Nein, so wird es nicht passieren.

Der zweite Punkt ist dann: Mach mehr von dem, was dir Freude macht. Und zwar schrittweise, mache es nicht von jetzt auf gleich. Die meisten Menschen sagen: Ah, ich habe verstanden, was der Stefan sagt, und dann mach ich also von heute auf morgen sofort nur noch das, was mir Freude macht. Dann kommt aber gleich der innere Kritiker und sagt: Das geht aber nicht, du musst ja noch arbeiten gehen, du musst noch jenes machen. Ja klar, weil du gleich den Sprung über den Grand Canyon versuchst, bevor du erstmal zwei Meter gesprungen bist.

Du musst erstmal üben, was es denn überhaupt bedeutet, in der Freude zu sein. Wie fühlt sich das an? Wo fühlst du das? Wo fühlst du das im Körper und bei welchen Tätigkeiten fühlst du das? Und was ist es denn, was dich kickt? Glaubst du wirklich, dass es das Geld ist, oder ist es das, was du machst und während du dich auf eine bestimmt Art und Weise bewegst, singst, malst oder was auch immer machst.

Was das genau ist, kann dir keiner sagen. Das ist in dir. Da kann dir auch kein schlauer Coach sagen, mach mehr Sport oder so etwas. Das muss jeder für sich selbst herausfinden. Das ist das Einzige, was es an Weg zu gehen gilt. Es gibt nicht diesen leidvollen Weg, sondern das ist einfach nur der Weg, hey, lass es uns mal herausfinden. Wie ist es jetzt gerade? Bin ich damit im Widerstand? Okay, brauch ich nicht sein, denn ich lebe ja noch. Solange ich lebe, ist alles in Ordnung. Dann kann ich schauen, wie mache ich mehr von dem, was mir Spaß macht. Aber eben schrittweise. Für die meisten ist das erstmal ein Herumstochern im Nebel.

Es ist also eher ein längerer Prozess als etwas, das wir sofort umsetzen könnten?

Für mich war und ist es immer noch ein langer Prozess. Wir machen in dem Bereich etwas sehr Lustiges, nämlich das Gleiche wie in allen anderen Bereichen auch: Wir stressen uns wieder. Und das ist mit Sicherheit der Weg, wie es nicht funktioniert, weil Stress auch eine Programmierung ist. Für Kinder in ihrem natürlichen Zustand gibt es keinen Stress. Für Kinder gibt es bestimmte Gefühle, Zustände und Situationen, aber es gibt keinen Stress nach dem Motto: Oh, bis morgen muss ich die Sandburg fertig gebaut haben, sonst passiert irgendetwas Schlimmes.

Die meisten denken: Ich würde ja meiner Freude folgen, wenn… Also: Wenn ich genügend Geld dafür hätte, wenn mein Partner das unterstützen würde, wenn ich nicht in Deutschland, sondern auf irgendeiner Insel leben würde und so weiter.

Wir denken immer, wir brauchen erst noch etwas, um irgendetwas tun zu können, und das ist die absolut krasseste Falle, die wir uns selbst stellen. Das ist nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass du mit den Mitteln beginnen kannst, die jetzt gerade hier sind. Das ist immer möglich, und wenn du behauptest, das ist nicht möglich, wirst du erstaunt sein, was deine Kreativität realisieren kann. Das bedeutet natürlich auch, Kompromisse zu machen. Ja klar, wenn ich kein tolles Fahrrad habe, fahre ich mit einem klapprigen Fahrrad. Wenn ich gar kein Fahrrad habe, laufe ich. Wenn ich keine Schuhe habe, laufe ich barfuß. Es geht. Kein Mensch hier in Deutschland kann behaupten, es fehlt ihm irgendetwas, um zu beginnen.

Mal ehrlich: Eine Welt, in der jeder nur noch in seiner höchsten Freude erschafft, kann das wirklich funktionieren?

(lacht:) Ja klar, stell dir mal eine Welt vor, in der jeder nur das macht, was ihm Spaß macht. Ich glaube nicht, dass wir dann alle nur noch in der Hängematte liegen. Denn wir Menschen sind Wesen, die gerne tätig sind. Wir tun gern etwas. Manche Leuten wenden ein: Ja, aber dann gibt es keine Müllfahrer mehr. Ja, dann wird das entweder von Maschinen erledigt, weil es Leute gibt, die lieber Roboter programmieren als Müllfahrer zu sein. Oder es wird so sein, dass es doch Müllmänner gibt, die das in ihrer höchsten Freude tun. Und die gibt es, die kenne ich sogar persönlich. Der Witz ist nur, dass es sich die meisten Menschen für sich selbst nicht vorstellen können. Nur weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es eine Putzfrau gibt, die mit Freude putzt, denke ich sofort, dann macht das keiner mehr. Das stimmt nicht. Es würde aber auch noch ein zweiter Effekt dazu kommen: Ich müsste der Putzfrau endlich das Geld geben, das sie verdient.

Wie würde eine solche Welt denn deiner Meinung nach aussehen?


Das ist so eine grundlegend andere Welt und so eine grundlegend andere Sichtweise auf die Welt, das können wir uns in unseren kühnsten Träumen nicht ausmalen. Unsere Genies würden viel stärker zum Vorschein kommen. Denn in jedem von uns steckt ein Genie. Und zwar nicht im Sinn von etwas, das noch entwickelt werden muss, sondern etwas, das schon da ist. Es wurde nur verdrängt.

Es geht nicht darum zu träumen, wie Einstein zu sein. Nein, Einstein gab es schon. Du bist du. Und du trägst ein anderes Genie in dir. Was das ist, kannst nur du herausfinden. Du musst es ausgraben, weil du es auch verschüttet hast, zugunsten deiner primären Bezugspersonen.

Ganz ehrlich, ich kann es mir nicht vorstellen, wie diese Welt aussehen würde. Aber wir hätten garantiert mehr Spaß im Leben, das kann ich sicher sagen. Vor allem würden wir uns gegenseitig extrem feiern, weil wir die Schönheit erkennen könnten, weil wir einfach sehen könnten, wie besonders jeder Einzelne ist.

Das Interview führte Julia Schneider. Sie ist freie Texterin und Journalistin und befasst sich am liebsten mit den Themen Entschleunigung, Nachhaltigkeit & Spiritualität. www.roadheart.com

ÜBER DEN AUTOR:
Stefan Hiene, Jahrgang 1975, stieg im Alter von 30 Jahren aus dem System aus. Was von außen wie das Leben eines Aussteigers aussah, war für Stefan nichts weiter als der Einstieg ins wahre Leben. Nach einigen Jahren als Radprofi und Rohkostexperte lebt und lehrt er heute als Autor, Coach, Speaker und Seminarleiter am Gardasee. Hin und wieder finden auch Retreats in deutschen Städten statt.

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