2025-11-09

Otfried Weise: WER BIST DU?


Stell dir vor, du sitzt am Rand eines weiten Sees.
Wellen spiegeln den Himmel,
manchmal sanft, zuzeiten wild.
Doch das Wasser bleibt immer Wasser,
egal, was es spiegelt.
So ist es auch bei dir.

Was du „Ich“ oder „Persönlichkeit“ nennst –
deine Geschichte, deine Sorgen,
die Gesichter/Masken, die du trägst –
das sind die Spiegelungen,
nicht das, was spiegelt.
Unter der Oberfläche wohnt
das klare, unbewegte Gewahrsein.
Das unendliche Wahrnehmen,
das weder beginnt noch endet.

Ein anderes Bild: Du sitzt im Kino.
Auf der Leinwand entstehen Welten –
Liebe, Krieg, Verlust, Erlösung.
Du lachst, du weinst,
du vergisst dich im Spiel.
Doch wenn du innehältst, merkst du:
Der Bildschirm brennt nicht,
wenn Feuer erscheint.
Er ertrinkt nicht,
wenn Sturm tobt.
Wenn das Licht angeht, ist der Spuk vorbei.
Die Leinwand bleibt, was sie immer ist –
rein, unberührt, leer.
So geht es auch dir.

Oder denke an den Himmel:
Er trägt Sonne und Gewitter,
Tag und Nacht,
doch nichts haftet an ihm.
Kein Wind kann ihn falten,
kein Schatten kann ihn trüben.
Er ist da – ob Vögel fliegen
oder Blätter fallen.

So ist das BEWUSSTSEIN,
in dem Gedanken, Rollen, Gefühle auftauchen.
ES SELBST BLEIBT STILL,
auch wenn alles laut wird.
Du bist auch nicht der Fluss,
der eilt oder dahingleitet,
sondern die Tiefe,
aus der er entspringt.
Nicht der Klang der Musik,
sondern das Schweigen,
in dem sich die Töne entfalten.
Nicht der Satz,
sondern das blanke Papier,
auf dem er geschrieben steht.

LEIDEN beginnt,
wenn du dich mit den Figuren
auf der Leinwand verwechselst,
wenn du glaubst,
du seist nur die Welle,
nicht das Meer.
Dann ängstigst du dich,
weil Wellen vergehen,
weil Geschichten enden.

Doch du bist das,
in dem alle Geschichten entstehen.
Du bist immer schon da,
bevor dein Name gesprochen wurde,
und du bleibst,
wenn jedes Wort verstummt.
Um dich von der Mühsal der Illusionen zu befreien,
musst du nichts Besonderes werden,
keinen Gipfel besteigen,
noch nicht einmal etwas loslassen.
Es geht nur darum, das alles Erschütternde
wahrhaft zu erkennen, zu fühlen, zu spüren:
ICH BIN NIEMALS VOM GANZEN GETRENNT.

Die indische zeitlose Weisheit ADVAITA VEDANTA sagt:
„Du bist nicht der Körper, nicht die Gefühle, nicht deine Gedanken, nicht deine Geschichte/Biographie. Du bist das BEWUSSTSEIN, das alldem zugrunde liegt“.
Es gibt keine Trennung zwischen „Ich“ und der „Welt“, „Subjekt“ und „Objekt“.
Leiden entsteht, wenn du dich mit den wechselnden Erscheinungen (Gedanken, Rollen, Emotionen) identifizierst und den stillen Zeugen – das reine Gewahrsein – vergisst.

Es geht nicht darum, ein besseres, verfeinertes Ego, einen gefestigteren, gereifteren Charakter zu kultivieren, sondern um

DIE AUFLÖSUNG DER IDENTIFIKATION MIT DIESEM KUNSTPRODUKT EGO.
Wenn sich der Wind legt,
und die Oberfläche klar wird,
und das, was du immer bist,
sich selbst spiegelt –
still wie grenzenlos,
geht es nur noch darum,
EINFACH ZU SEIN.

Bild: Chanakya Lama

Quelle: Otfried Weise

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