2016-06-13

Traumatherapie: Stärkung des Gesunden-Ich nach traumatischen Erfahrungen

von Alexandra Ehlert für sein.de


Vernachlässigung, fehlende Liebe, Bindung und Respekt, sowie psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt in frühester Kindheit führen zu traumatischen Erfahrungen, die eine Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit in drei Anteile zur Folge haben können. Dieses Traumamodell nach Prof. Dr. Franz Ruppert inspirierte Alexandra Ehlert zur Selbsterforschung und führte sie auf den Weg zu ihrer eigenen Traumatherapie.


Durch meine Eltern erfuhr ich zahlreiche chronische Traumatisierung, die in mir ein Bindungs-, Verlust-, Existenz-, Gewalt-, Liebes- und Symbiose-Trauma auslösten. Den Großteil meines Lebens verdrängte ich all dies und führte bis Mitte 30 ein sehr leistungsbezogenes Leben, in dem ich mich unabhängig und stark verhielt. Aber in manch stillen Momenten wunderte ich mich, dass ich scheinbar so unbeschadet aus meiner Kindheit hervorgegangen war.

Natürlich war das Gegenteil der Fall. Wie ich heute weiß, hatte ich lediglich den Großteil meiner Erlebnisse abgespalten. Erst als ich unter chronischer Erschöpfung und sozialer Phobie litt, begann ich meine Erlebnisse aufzuarbeiten. Es war der Angang eines langen Weges, auf dem ich an traumatisierten inneren Kindern, Verleugnungs-, Zwangs- und Hörigkeitsmustern, Täter-Introjekten, Gedanken- und Gefühlsimplantaten, Selbstbestrafungsprogrammen und emotionalen Abgründen Station machte und mich schrittweise transformierte.

Nach Jahren der Aufarbeitung stellte ich allerdings fest, dass mir ein Neuanfang nicht gelang. Ich fühlte mich immer noch depressiv, orientierungslos, verlassen und ohne Lebensfreude. Monatelang war ich sehr verzweifelt und stellte den Sinn der tiefenpsychologischen Aufarbeitung in Frage. Was hatte ich von all den nachträglich durchlebten Abspaltungen, den zahlreichen Erkenntnissen über meine Fremdbestimmung oder den Gewinn an Klarheit über meine destruktiven Glaubensmustern, wenn ich mich immer noch in einem alten Bewusstsein gefangen fühlte!?

In dieser orientierungslosen Zeit stieß ich auf das Trauma-Modell nach Prof. Dr. Franz Ruppert, in dem die Aufspaltung nach traumatischen Erfahrungen in drei Persönlichkeitsanteile aufgezeigt wird: das Trauma-Ich, das Überlebens-Ich und das Gesunde-Ich. Die Bewusstseinsmerkmale dieser drei Ich-Anteile machten mir schnell klar, dass ich noch viel zu wenig Zugang zum Bewusstsein meines Gesunden-Ich hatte.

Deutlich wird dies durch die Beschreibung der Anteile:

Traumatherapie: Das Bewusstsein des Trauma-Ich

In das Bewusstsein des Trauma-Ich werden die Erfahrungen abgespalten, die Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ablehnung, Demütigung, Verlust, Ungerechtigkeit, (Todes-) Angst, Verlassenheit, Unverständnis, Ausgeliefertsein oder Schmerz beinhalten, die in der bedrohlichen Situation weder kognitiv, noch emotional zu bewältigen waren. Gleichzeitig kann die existenzielle Bindung zu den Eltern aufrechterhalten werden, indem die Eltern auch weiterhin als „gute Eltern“ eingestuft werden können.

Allerdings bedingen die unaufgearbeiteten Abspaltungen im Trauma-Ich, dass es im Verlauf des Lebens zu weiteren Reinszenierungen1 oder Reviktimisierungen2 kommen kann. Ebenso können die späteren Beziehungen im Berufs- und Privatleben der Beziehungs- und Bindungsproblematik mit den Eltern entsprechen. Dies kann sich wie z. B. in Nähe-Distanz-Problematik, Aufopferung, Unterwürfigkeit, Fremdbestimmung, Missbrauch oder Lieblosigkeit zeigen.

Damit traumatischen Abspaltungen bewusst verarbeitet werden können, müssen sie zu einem späteren Zeitpunkt in das Bewusstsein des Gesunden-Ichs integriert werden. Das Gesunde-Ich verfügt über die Stärke, die Klarheit und alle notwendigen Fähigkeiten, die schmerzhaften Erfahrungen anzunehmen und zu integrieren.

Dem steht allerdings häufig das Überlebens-Ich im Weg, wie es auch bei mir der Fall war.

Traumatherapie: Das Bewusstsein des Überlebens-Ich

Der Überlebens-Anteil ist der Schutzmechanismus der Psyche, der in der traumatischen Situation das Verhalten steuert und so das Überleben sichert. Gleichzeitig schützt dieser Anteil auch in/nach traumatischer Erfahrung das Überleben, indem es die Erlebnisse und die damit verbundenen Gefühle blitzschnell abspaltet. Mit der Abspaltung der traumatischen Erfahrungen und Gefühle wird das Gesunde-Ich geschützt.

So groß der Nutzen des Überlebens-Ich in der bedrohlichen Situation ursprünglich war, steht er der späteren Auflösung des Traumas am deutlichsten im Wege, da in seiner Vorstellung die vergangene Bedrohung immer noch real ist. Für den betroffenen Menschen bedeutet dies, dass er jederzeit (unbewusst) damit rechnet, dass sich die ursprüngliche Gefährdung in der aktuellen Zeitqualität wiederholen kann.

Das erklärt, weshalb traumatisierte Menschen wenig Zugang zum Bewusstsein ihres Gesunden-Ich haben, weil es vom Überlebens-Ich immer noch für schutzwürdig gehalten wird.

Das führt zu einer inneren Gefangenschaft (Schutzhaft) und zu einer Vermeidungshaltung gegenüber dem Leben. Schlimmstenfalls verbieten sich Betroffene sogar jegliche Lebensfreude oder Glück, weil das von den früheren Tätern systematisch bestraft wurde. Deshalb versucht das Überlebens-Ich im Verlauf des gesamten Lebens alles zu vermeiden, was seiner (veralteten) Einschätzung nach eine Gefährdung auslösen könnte.

Hinzu kommt eine tief verankerte Überzeugung des Überlebens-Ich, die gleichfalls eine Aufarbeitung der Erlebnisse vollständig blockieren kann: Es glaubt nicht an die Stärke und Intelligenz des Gesunden-Ich, die traumatischen Erfahrungen verarbeiten und integrieren zu können.

Daher entwickelt das Überlebens-Ich ein komplexes Bewusstsein aus Strategien zur Verdrängung des Trauma-Ich. Diese können von kontrollierendem Verhalten, Perfektionismus, Verleugnung der Geschehnisse, Leistungszwang, falschen Identifikationen (Äußerlichkeiten, Geld, Beruf, Religion, Esoterik…), einem stark übersteigerten Selbstwertgefühl bis hin zu Narzissmus, Angst vor schmerzhaften oder belastenden Gefühlen, bis hin zu vielseitigen Sucht- oder Zwangsverhalten reichen.

Viele der angeführten Verdrängungs-Strategien kenne ich von mir selbst und kann sie auch immer wieder bei anderen traumatisierten Menschen beobachten. Inzwischen weiß ich, dass allein das Gesunde-Ich die Aufarbeitung des Traumas vornehmen kann.

Traumatherapie: Das Bewusstsein des Gesunden-Ich

Das Gesunde-Ich hat den Willen zur Wahrheit und Klarheit über alle Lebenserfahrungen, auch über die schmerzhaften. Es ist willensstark und bereit, die traumatischen Erfahrungen zu erkennen und zu akzeptieren. Daher bleibt das Gesunde-Ich ruhig, wenn Gedanken und Gefühle des Trauma- oder Überlebens-Ich auftauchen. Das Gesunde-Ich ist sich seiner Aufgabe und Verantwortung des Managements über die Gedanken und Gefühle der anderen Ich-Anteile bewusst.

Wie zuvor aufgezeigt, verfolgen das Trauma- und Überlebens-Ich eigene Ziele, Strategien und Wünsche und kreieren eine ganz eigene Welt aus Gedanken und Gefühlen, die in der Regel im Widerspruch zu den Gedanken und Gefühlen des Gesunden-Ich stehen. Das Gesunde-Ich verfolgt eine wahrhaftige Lebensgestaltung, die den Wunsch nach gesunden Beziehungen, Akzeptanz, Selbst-Liebe, Selbstbestimmung, beruflicher Erfüllung, Familie und Eigenverantwortlichkeit zum Ziel hat. Darüber hinaus schätzt das Gesunde-Ich Menschen, Situationen und Möglichkeiten realistisch ein und besitzt ein gesundes Warnsystem vor Gefahren.

Es verfügt über den unverfälschten Selbstwert, der jedem Mensch inhärent ist. Das Gesunde-Ich besitzt nach wie vor ein Urvertrauen und ist sich seiner individuellen Fähigkeiten und Talente bewusst. Daher kann der Anteil (eigene) Grenzen erkennen und setzen, Möglichkeiten erkennen und Chancen beherzt nutzen. Gelingt dem Gesunden-Ich etwas nicht, geht die Welt nicht unter, sondern es wird konstruktiv an einer Lösung oder Neuorientierung gearbeitet.

Das Gesunde-Ich bildete also den Wesenskern unserer wahren Identität und ist der Teil in uns, nach dem wir uns schon immer gesehnt haben.

Das Gesunde-Ich ist in der Lage, sämtlichen Gedanken und Gefühlen nicht mehr blind und ungeprüft zu vertrauen, sondern sie auf ihre Aktualität und Richtigkeit zu überprüfen und gegebenenfalls zu transformieren. Durch die Vorherrschaft der anderen Ich-Anteile existierte es bislang im Hintergrund des Daseins, so dass die Ausprägungen seiner neuronalen Strukturen im Gehirn wenig bis stark verkümmert sind. Dies kann aber korrigiert werden.

Der Nutzen der Neuroplastizität des Gehirns

Das Gehirn ist dank seiner Neuroplastizität in der Lage, sich zu reorganisieren. Das allerdings setzt voraus, dass das Gehirn seine Informationen aus dem Bewusstsein des Gesunden-Ich beziehen kann.

Nachdem mir diese Tatsache bewusst geworden war, entzog ich den Gedanken und Gefühlen meines Trauma- und Überlebens-Ich immer mehr die Aufmerksamkeit. Ich hatte meine Erlebnisse hinreichend aufgearbeitet und ich war nicht länger bereit, in der lebensvermeidenden Haltung meines Überlebens-Ich zu verharren.

Zunächst führte das Loslassen von alten und gewohnten Denk- und Gefühlsmustern zu einer Leere in mir, in der ich mich kaum noch in der Lage fühlte, überhaupt etwas zu denken. Das war für mich ein sehr merkwürdiger Zustand, der einige Monate andauerte. Bislang war es mir möglich gewesen, schnell zu denken und klar zu analysieren. Aber nun war da eine Art „Bewusstlosigkeit“, in der es mich sehr viel Mühe kostete, überhaupt einen klaren Gedanken zu fassen. Gleichzeitig konnte ich mich immer schlechter erinnern, was auch meine traumatischen Erfahrungen verblassen lies, so dass auch die damit verbundenen schmerzhaften Gefühle zusehends verschwanden. Auch das war zunächst sehr ungewohnt, denn mein emotionaler Schmerzkörper vermisste das Leid. Insofern musste ich eine starke „Leidkontrolle“ ausüben, indem ich schmerzhaften Gedanken und Gefühlen keine Energie mehr zur Verfügung stellte.

Was mich aber überraschte, war die Tatsache, dass in dieser Zeit meine Suizidgedanken rapide zunahmen. Erst später verstand ich, dass ich mit dem schrittweisen Entzug der Aufmerksamkeit auf mein Trauma- und Überlebens-Ich große Teile meiner Persönlichkeit tatsächlich sterben lies. Rückblickend war dieser Sterbeprozess die Chance auf meinen Neuanfang.

Die Stärkung des Gesunden-Ich

Nach einigen Monaten der relativen Gedanken- und Gefühllosigkeit und dem Nichtstun, bemerkte ich innerhalb von 2 bis 3 Wochen eine starke Zunahme von Zuversicht, Selbstwert und Schöpferkraft. Ich war wesentlich zentrierter und konnte andere Menschen oder politische Geschehnisse mit mehr Gelassenheit beobachten. Gleichzeitig fielen letzte Schleier, die eine klare und gesunde Sicht auf mich selbst, auf andere Menschen und auf das Leben bislang stark getrübt hatten. Es fühlte sich erleichternd an, dass ich nach 44 Jahren endlich neue Gedanken und Gefühle wahrnehmen konnte.

Dies führte zu einer ganzen Reihe von weiteren Veränderungen in mir: Auch mein Perfektionismus, meine Selbst-Angriffe und -Verurteilungen, die Ohnmachtsgefühle, Depressionen und Orientierungslosigkeit verschwanden zusehends.

Ich achtete weiterhin auf eine „Gedanken- und Gefühlshygiene“, damit ich nicht in alte Muster zurückfiel. Aber nach wenigen Wochen war auch das nicht mehr notwendig, da ich anhand der Energiequalität eines Gedanken sehr schnell spürte, ob dieser meinem Gesunden-Ich oder meinem Trauma-/Überlebens-Ich entsprungen war.

Das Gesunde-Ich denkt, fühlt und handelt viel leichter und freier, weil seine Energie viel stärker ist.

Die Reorganisation meines Gehirns schritt voran, indem ich veraltete neuronale Verbindungen meines Traum- und Überlebens-Ich immer mehr verkümmern, und die meines Gesunden-Ich erstarken lies. 

Ich befinde mich auch heute noch in diesem Prozess der Stärkung meines Gesunden-Ich, den ich mit Leichtigkeit weiterverfolge. Er beschenkte mich mit einem Selbst- und einem Urvertrauen, wie ich es bis dahin nicht gekannt hatte.

1 (ggf. unbewusster) Wiederholungszwang
2 wiederholt Opfer werden

Literaturhinweis:
Franz Ruppert: Trauma, Angst und Liebe
Kösel 2012, ISBN: 978-3-466-30966-5

Über die Autorin:
Alexandra Ehlert ist Systemische Beraterin, Mentaltrainerin, Volljuristin, Bankkauffrau und Immobilienwirtin. Nach einigen Jahren in der Finanzindustrie, belgeitet sie seit 2006 Menschen in ihrem Privat- und Berufsleben in Veränderungs- und Transformationsprozessen. Heute arbeitet sie mit Frauen in Einzel- und Gruppen-Mentorings mit dem Ziel das Gesunde-Ich zu stärken.

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