Das Urbild von Gemeinschaft ist in uns allen, es ist eine Erinnerung daran, wie wir ganz selbstverständlich Teil waren von einem Stamm, einem Volk, einer großen Familie.
Was ist eigentlich Liebe in der heutigen Zeit? Wenn ich dieser Frage nachlausche, entstehen in mir die Worte „wohlwollende Aufmerksamkeit“. Wohlwollende Aufmerksamkeit nicht nur für die Teile in mir, die sich nach Verbundenheit sehnen, sondern auch für jene, die ich am liebsten ausschließen möchte (um mich dann vermeintlich verbunden zu fühlen). Vielleicht kennt ihr diese Sehnsucht nach Verbindung, der etwas Störendes im Weg ist. Habe ich eine Aufmerksamkeit für diese Sehnsucht nach Verbundenheit? Und habe ich auch eine Aufmerksamkeit für das, was da im Weg ist? Halte ich nicht innerlich Abstand von Menschen, die sich mit einfachen Antworten begnügen und sage mir: „Die Welt ist doch so viel komplexer“? Halte ich nicht Abstand zu dem Anteil in mir, der wüten möchte, ausbrechen, und der unseren etablierten Parteien die Schaffensplattform entziehen will? Der das Verstehen und Recherchieren beenden will und einfach abwählen. Kenne ich den Populisten in mir? Oder sind das nur die anderen?
Liebe bleibt da, auch wenn sie nicht weiß, was sie tun soll
Liebe in unserer Zeit heißt Aufmerksamkeit dafür, dass in meinem Innenraum die ganze Welt stattfindet. Denn die Welt, das, was außen ist, ist irgendwo auch in mir. Und ich übe mich darin, dem was in der Welt geschieht, Aufmerksamkeit zu schenken, und nicht sofort weiterzublättern. Sondern damit mindestens einen Moment lang zu sein. Weil ich glaube, dass es einen Unterschied macht, ob es Menschen gibt, die nicht wegschauen. Auch wenn ich oft nicht weiß, was ich tun soll.Das ist ein Aspekt von Liebe: Liebe bleibt da, auch wenn sie nicht weiß, was sie tun soll.
Wenn Zeiten unsicher werden
Wenn Zeiten unsicher werden und sich verändern, haben Menschen die Neigung, zurückzufallen in frühere Verhaltensweisen, zu regredieren. Gemeinschaft bietet die Möglichkeit, das Bewusstsein über Dynamiken in unserem Innenraum oder in der Welt durch eine Verbindung untereinander zu pflegen. Das hilft uns, nicht zu regredieren. In gewisser Weise ist Liebe das pure Wahr-Nehmen. Dieses Wort wörtlich genommen: das, was wahr ist, nehmen. Wilhelm Reich hat gesagt, Wahrheit ist der unmittelbare Kontakt zwischen dem, der wahrnimmt, und dem, was wahrgenommen wird. Und diese Art von Wahrnehmung und diese Art von Kontakt zwischen Menschen, die wahrhaftig sein können, das ist für mich der Traum von Gemeinschaft.
Das Urbild von Gemeinschaft
Es gibt so etwas wie ein Urbild von Gemeinschaft, es gibt einen Schatten von Gemeinschaft und es gibt einen Traum von Gemeinschaft. In meinem inneren Fühlen verändert sich der Traum von Gemeinschaft gerade, er weitet sich, wird größer als das, was ich bisher unter Gemeinschaft verstanden habe. Das Urbild von Gemeinschaft ist in uns allen, es ist eine Erinnerung daran, wie wir ganz selbstverständlich Teil waren von einem Stamm, einem Volk, einer großen Familie, was auch immer da bei euch anklingt. In jedem Fall sind wir als Menschen alleine gar nicht lebensfähig, auch wenn unsere Kultur alles dafür tut, dass jeder alleine klar kommt. Es gibt aber mindestens auf einer seelischen Ebene etwas, wo wir ohne andere gar nicht überleben können. Und es gibt eine Erinnerung an diese Einbindung, an die Zugehörigkeit.
Nicht alles der Regierung oder dem Staat überlassen
Es gibt viele gute Gründe dafür, heute bewusst Gemeinschaft aufzubauen. Gemeinschaft bietet die Möglichkeit, das Leben in die Hand zu nehmen, es selber zu gestalten und nicht alles der Regierung oder dem Staat zu überlassen. Wie will ich leben, welche Strukturen will ich mir geben, wie kann ich aussteigen aus Mechanismen des Konsum oder Leistungsdenkens? Eine Umgebung schaffen, in der andere Werte gelebt werden, das ist für mich eine der ganz wesentlichen Absichten von Gemeinschaft. In Gemeinschaft ist es möglich, viel mehr von meinen Gaben zu entfalten, weil ich ein größeres Spektrum an Dingen habe, die gebraucht werden. Und bevor ich zu weiteren Möglichkeiten von Gemeinschaft komme, möchte ich kurz schweifen zum Schatten von Gemeinschaft. Es gibt viele gute Gründe, nicht in Gemeinschaft zu leben oder aus Gemeinschaft auszuziehen. Oft ist es wie in einer Liebesbeziehung: in dem Moment, in dem wir uns verlieben, oder in dem Moment, in dem wir uns entscheiden, in eine Gemeinschaft zu kommen, rufen wir den Traum und den Schatten wach.
Die Schatten von Gemeinschaft
Man erinnert sich an das kollektive Feld: Wie es in der Schule war, wie in früheren Zeiten, wie in der Geschichte Gemeinschaft missbraucht wurde. Die Schatten von Gemeinschaft sind Anpassung, Pflichtgefühl, Unfreiheit und im schlimmeren Fall Ideologie und Gleichschaltung. Und dieser Schatten muss man sich sehr bewusst haben. Das heißt, dass Gemeinschaft so richtig etwas dafür tun muss, dass die ganze Größe der Menschen darin ihren Platz findet. Also unsere emotionelle Seite, unsere sinnliche, unsere spirituelle, unsere geistige, unsere sexuelle, unser Wunsch beizutragen. Um eine Kultur zu schaffen, in der der Mensch als Ganzes hineinpasst.
Lernen, einen Raum zu schaffen
Der Traum von Gemeinschaft ist auch, dass wir lernen, einen Raum zu schaffen, in dem die Polarität des Lebens sich bewegen kann. Ein Beispiel: wenn Individualität möglich ist, ich also ganz mein Eigenes gebe und gleichzeitig nicht so wichtig bin. Ganz ins Potenzial gehen und die Demut kennenlernen, weil ich eine von vielen bin. Das ist eine verrückte Spannung. Ich gehe immer mal wieder vor und zurück an dieser Stelle, mal mache ich ganz das eine und mal ganz das andere, aber die Bewegung ist gesund. Diese Polaritäten des Lebens: zwischen Wille und Loslassen, Chaos und Ordnung. Können wir es aushalten, eine Gemeinschaft aufzubauen, die nicht total durchorganisiert ist, wo Chaos erlaubt ist – im Sinn von Beweglichkeit, Flexibilität? Wo wir nicht genau wissen, wer dazugehört? Oder vielleicht doch: Ordnung, Klarheit?
Wie gehen wir um mit Führen und Folgen? Können wir uns erlauben zu führen und können wir folgen in Selbstverantwortung? Oder ist Folgen bei uns verbunden mit Verantwortung abgeben und auf die Führer schimpfen, wenn sie es falsch machen, oder sie bewundern, wenn sie es richtig machen? Wie gehen wir mit diesen Dynamiken um? Spannung und Entspannung sind auch zwei solche Pole.
Gemeinschaft ist nicht an einen Platz gebunden
Dazu gehört auch die Frage: Was heißt Gemeinschaft über die Grenzen eines Ortes hinaus? Dieser Prozess gelingt hier bei uns gerade sehr weich und schön – dass wir einerseits klare Strukturen haben und andererseits an den Grenzen aufweichen wodurch eine Bewegung entsteht, ein Gefühl von Zugehörigkeit, für das man nicht hier leben muss. Und ich ganz persönlich brauche das. Mein Geist braucht ein Kondensat von Gemeinschaft, die nicht an einen Platz gebunden ist, sondern an ein Lebensgefühl, eine Idee, einen Klang. Das ist auch ein Grund, warum wir Gäste zu uns einladen, weil wir das mit anderen Menschen teilen wollen.
Größe aufspannen
Es gibt aktuell viel Sehnsucht nach Gemeinschaft, viele Projekte schießen aus dem Boden. Aber leider reicht es nicht, wenn man Menschen versammelt, sich trifft und viele ist. Da sagt man dann, wir haben eine Gemeinschaft. Und aus irgendeinem Grund ist es mindestens nach der Verliebtheitsphase nicht mehr so leicht. Was genau ist das Ferment, das eine Gemeinschaft zu einer Gemeinschaft macht? Ich glaube, da gibt es verschiedene Antworten. Die, die mir heute wichtig ist, lautet: eine Gemeinschaft, die es ermöglicht, Größe aufzuspannen und Raum zu geben für die Grundbewegungen des Menschen. Jeder Mensch hat in sich das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, ich nenne es auch Bleiben, das ist für mich die Horizontale. Und jeder Mensch hat das Bedürfnis nach Wachstum, nach Werden, nach Kreativität, ich nenne es auch Freiheit. Nach dem, was über uns hinausgeht, wo wir ein Stück Ewigkeit in uns tragen. Das ist der Teil, der nicht definierbar ist, der nicht Dolores ist. Und wenn ich merke, dass du Dolores siehst und das, was nicht Dolores ist, auch noch mitkriegst … kennt ihr das? Ich erlebe das als ein Gefühl, dass jemand mich nicht äußerlich festlegt, sondern mit mir an der Schwelle des Unbekannten verweilt, wo wir beide mit unserem Werden verbunden sind. Für mich ist das fast etwas Metaphysisches.
Viele Gemeinschaften in Gründung vergessen das Metaphysische, verbringen sehr viel Zeit auf der horizontalen Ebene, sprechen stundenlang über Werte, Preise, Einkaufsquellen, ökologische Ressourcen. Das ist wichtig. Wenn aber die andere Dimension fehlt, in der es überhaupt nicht darum geht, dann mag man sich nicht mehr nach einer Zeit. Und kauft sich dann doch wieder die eigene Waschmaschine. Weil man wieder bestimmen will, welches Waschmittel man nimmt. Dann werden diese Dinge wieder wichtig. Wie können wir diese andere Dimension erzeugen? Sie ist nicht nur metaphysisch, sie ist auch herausfordernd, in Frage stellend und fühlt sich nicht sicher an. Ich kann mich nicht festhalten auf dieser Ebene.
Anarchische Kooperation
Wir haben im ZEGG eine Zusammenstellung von hellen Prinzipien, die durch uns wirken mögen, und eines davon ist die „anarchische Kooperation“. Das ist mein Lieblingsprinzip, diese Zusammenkunft von anarchisch – definiert als totale Selbstverantwortung – und Kooperation: Ich gehe ganz für das, was für mich und das Ganze wichtig ist. Und dafür frage ich nicht immer alle, sondern vielleicht nur die, die es gerade betrifft, aber ich übernehme die volle Verantwortung. Anarchische Kooperation, das gefällt mir, weil es eine interessante Spannung beinhaltet.
Wahrnehmen, Belichten, Aufräumen
Die Phase, in der man auf einer horizontalen Ebene versucht, sich zu verständigen, kann man durchbrechen. Das geht nur durch eine Knochenarbeit des Aufräumens untereinander und in sich selber. Und ich glaube, das ist nicht nur eine Phase, sondern gehört immanent zum Gemeinschaftsaufbau. Es geht darum, zu lernen – in Liebesbeziehungen genauso –, vorschnelle Urteile, starre Erwartungen, den Wunsch zu bekehren, den Wunsch zu heilen, den Wunsch, andere zu verändern, den Drang zu siegen, das Bedürfnis nach Kontrolle, das alles in mir zu belichten. Es in mir wahrzunehmen, ins Gespräch zu bringen, den anderen zu zeigen und damit auch zu entlassen. Da gibt es richtige Transformationsarbeit zu tun. Das wesentliche Ferment von Gemeinschaft ist Vertrauen, und Vertrauen entsteht erst nach dem Aufräumen. Ganz oft in der Verliebtheitsphase ist Vertrauen eine Projektion. Wenn sie enttäuscht wird, werden wir sehr bitter und manchmal auch böse. Ich vertraue Menschen, wenn ich weiß, dass sie um sich wissen, wenn sie auf dem Weg sind, ihre Schatten, Macken und Potenziale zu kennen. Dann entsteht für mich Vertrauen.
Dimensionen der Liebe
In diesem großen Traum von Gemeinschaft, in dem wir die Weite haben, Spannung zu beinhalten, in dem wir Wahrheiten nicht verkleinern oder verbergen müssen, entsteht eine Resonanz oder ein Energiefeld, das ich als Liebe bezeichnen würde. Es gibt ein Gefühl von Liebe, das nicht einen Menschen meint. Es gibt sowieso die Naturliebe und die Elternliebe und die Menschenliebe, aber es gibt auch im persönlichen, zwischenmenschlichen Bereich eine Liebe, die überpersönlich ist. Sie entsteht, wenn wir uns erlauben, unsere Sehnsucht wach zu halten, auch wenn sie nicht erfüllbar scheint. Wenn wir eine solche Spannung halten, sind wir im Vorgang des Liebens. Wir bleiben da. Unabhängig davon, wann die Sehnsucht sich erfüllt. Und je mehr ich mein Herz offen halte, auch mir selbst gegenüber, desto mehr bin ich auch vor den Spannungen anderer gewappnet. Und diese vertikale, spirituelle Dimension der Liebe ist eine Dimension, die wir uns unter Menschen nicht dauerhaft geben können. Es gibt eine Kraft der Liebe, die wir uns vielleicht von einem Menschen ersehnen, die wir dort zwar in Momenten finden können, deren Quelle aber nicht bei dem anderen Menschen liegt, sondern in dem, was über uns beide hinausgeht. Mein Traum ist die Bewegung, die Wandlung und das Sprengen von Identifikationen mit echter Süße und Nähe verbindet.
Dolores Richter ist Schirmherrin der Be(e) School Berlin und Leiterin der Jahresausbildung „Liebeskunstwerk“ im Zegg.
Mehr Infos:
Liebeskunstwerk im ZEGG 2016 – Bedingungen schaffen, dass Liebe gelingt
Jahresgruppe mit Dolores Richter, Kolja Güldenberg &Team
Mit der Be(e) School durchs Jahr
Die Be(e) School ist ein Jahresprogramm für Potentialentfaltung, für innere und äußere Transformation. Sie möchte Menschen verbinden und ausbilden, die sich kooperativ und ganzheitlich für das Wohl des Lebens auf dem Planeten engagieren und dabei mit ihrem jeweils persön lichen Beitrag wirken.
An acht Wochenenden, jeweils an einem Freitagabend und Samstag, geht es um folgende Bereiche:
Nähere Informationen: www.bee-school.org
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