2025-12-07

Otfried Weise: DIE HINGABE AN DIE SCHÖPFERKRAFT


In einer Nacht, die weder gestern noch morgen gehörte, wanderte ein Mensch durch eine stille Landschaft aus feinem Nebel. Nichts war klar umrissen, und doch war alles in einer tiefen, vibrierenden Präsenz da – als würde die Welt nur darauf warten, dass ein Gedanke sie berührt und formt.

Der Wanderer blieb stehen.

„Wohin gehe ich?“, fragte er in die Weite.

Eine Stimme antwortete, nicht von außen, sondern aus einem Raum in ihm, den er längst vergessen hatte.

„Du gehst dorthin, wohin du dir erlaubst zu gehen.“

Die Worte klangen wie ein ferner Klang, der zugleich vertraut war. Der Wanderer sah in seine Hände: Sie schimmerten, leicht, als bestünden sie aus Lichtfäden, die nur einen Körper imitierten. Ein Gefühl von Ruhe durchströmte ihn.

„Bin ich es, der erschafft? Oder gebe ich mich nur einer Kraft hin, die größer ist als ich?“
Da trat aus dem Nebel eine Gestalt hervor – nicht Mann, nicht Frau, nicht jung, nicht alt. Eher ein Flüstern in Form, ein Wesen, das schimmerte wie der Morgen, bevor er sich entschieden hat, Tag zu werden.

„Hingabe ist nicht Aufgabe,“ sagte die Gestalt.

„Hingabe ist die Erinnerung daran, dass du nie getrennt warst.“

Der Wanderer blickte in ihre Augen und sah darin Welten, die er nie wahrgenommen, aber immer geahnt hatte. Und er spürte, wie ein Vibrieren durch seinen Brustkorb ging: eine Mischung aus Ehrfurcht und längst vergessener Vertrautheit.

„Und wo endet mein kleiner Willen?“, fragte er.

„Wo beginnt das größere Ich? Und was bin ich dann – ein Werkzeug oder ein Schöpfer?“

Die Gestalt lächelte, als würde ein Stern lächeln.

„Der kleine Wille ist die Hand. Der große Wille ist der Atem.“

„Du bist beides.“

Dann streckte sie einen Arm aus und deutete auf den Nebel. Dort, wo ihr Finger hinwies, begann der Nebel sich zu verdichten – erst zu Farben, dann zu Formen, dann zu einer Landschaft, die vom Wanderer zu stammen schien: Berge, die er geliebt hatte, ein Fluss, der ihn an seine Kindheit erinnerte, Wälder, die er nie durchwandert, aber immer ersehnt hatte.

„Ist das mein Werk?“, fragte er.

„Es ist deins, weil du es fühlen kannst.

Und es ist deins, weil du es nicht erzwungen hast.“

Der Wanderer schloss die Augen und spürte etwas in sich erwachen – eine Klarheit, die kein Gedanke war, sondern ein Fließen. Er fühlte, wie der Raum in ihm weit wurde, weit wie eine See aus Sternen, und in dieser Weite regte sich ein Wille, der nicht drängte, sondern einlud.

„Du kannst frei gestalten,“ sagte die Gestalt,
„doch je tiefer du dich erinnerst, desto weniger willst du gegen die Strömung formen. Du wirst im Einklang schöpfen, weil du erkennst, dass der Strom aus dir kommt.“

„Und mein Lebensplan?“, fragte der Wanderer leise.

„Kann ich ihn ändern?“

Die Gestalt hob die Hand und zeichnete einen einzigen Lichtpunkt in die Luft. Dieser Lichtpunkt begann zu pulsieren, und um ihn herum erschienen weitere Punkte, bis ein ganzer Himmel entstand – ein Himmel aus Möglichkeiten.

„Manche Sterne sind gesetzt,“ sagte sie.

„Doch zwischen ihnen ist unendlicher Raum. Du kannst neue Linien ziehen. Neue Muster. Neue Wege.“

Der Wanderer sah in den Himmel und fühlte, wie eine tiefe, ruhige Freude ihn umhüllte. Kein Triumph, keine Machtgier – eher das stille Wissen: Ich darf. Ich kann. Ich bin.

„Ich möchte nur noch Schönes erleben,“ sagte er schließlich. „Aufbauendes. Ich bin müde von allem anderen.“

Die Gestalt kam näher. Ihre Stimme war nun fast ein Hauch.

„Das Schöne beginnt dort, wo du dich nicht mehr gegen dich selbst stellst.“

„Wenn du Schönheit wählst, wählt sie dich zurück.“

Dann legte sie eine Hand auf sein Herz.

Und in diesem Moment explodierte die Welt nicht in Lärm, nicht in Licht, sondern in ein sanftes, goldenes Atmen. Der Nebel wich zurück, und alles um ihn herum begann sich zu formen – diesmal aus seinem eigenen inneren Leuchten. Farben, die Bewegungen hatten. Formen, die Musik sangen.

Wege, die sich öffneten, nicht weil er sie suchte, sondern weil er bereit war, gesehen zu werden.
Die Gestalt wich zurück.

„Jetzt geh“, sagte sie.

„Nicht um zu lernen. Nicht um zu kämpfen. Sondern um zu erschaffen, was du schon immer in dir trägst.“

Der Wanderer atmete ein, und der Atem schmeckte nach Morgen.

Er machte den ersten Schritt – und die Welt antwortete mit einem sanften, willkommenen Erblühen.
Er war nicht mehr nur der, der ging.

ER WAR DER, DURCH DEN DER WEG ENTSTAND

Bild: Positiva Vibração

Quelle: Otfried Weise

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