2025-12-12

Otfried Weise: ÜBER AUTONOMIE UND MITGEFÜHL


Die SEELE ist ein verborgener Garten
im Innersten des Menschen,
gepflanzt in jener ersten Stunde,
als das Ewige über das Antlitz des Nichts atmete.

In ihr wachsen Bäume,
die weder Sommer kennen noch Winter,
denn ihr Laub ist aus LICHT,
und ihr Duft ist ERINNERUNG an eine Heimat,
die kein Fuß je betreten hat
und doch jeder Pilger in sich trägt.

Die PERSÖNLICHKEIT aber
ist wie ein Kleid aus wandernden Farben,
gewoben aus Tagen und Nächten,
aus den Stimmen derer, die vorübergehen.
Sie gleicht einem Spiegel aus Wasser:
streicht der Wind über ihn,
so verändert sich sein Antlitz,
und er hält nichts von dem fest,
was auf ihm ruht.

Doch die SEELE ist der Brunnen darunter, tief, klar –
der dieselbe Mondscheibe trägt,
gleichgültig, wie viele Stürme
über die Oberfläche ziehen.

AUTONOMIE ist das Erwachen dieses Brunnens.
Sie ist das Öffnen eines inneren Tores,
durch das ein EWIGES LICHT eintritt,
das nicht fragt, wem du gefällst,
sondern zu wem du gehörst.

Die PERSÖNLICHKEIT sucht Freiheit
wie ein Schiff, das den Hafen flieht,
aus Furcht vor dem Urteil der Küste.
Sie wirft ihre Anker aus,
ohne zu wissen, dass sie selbst
am eigenen Tau hängt.

Doch die SEELE bewegt sich lautlos
wie eine Sternenkonstellation,
die keinem Meer und keinem Himmel Rechenschaft schuldet.
Sie trägt ihre FREIHEIT
wie der Morgen seine Helligkeit trägt:
ohne Stolz, ohne Absicht,
als wäre sie nur ein einfacher Dienst am Geheimnis der Welt.

Darum ist MITGEFÜHL die Vollendung der AUTONOMIE.
Denn das HERZ, das sich selbst gefunden hat,
wird weich wie Brot in den Händen eines Wanderers.
Es teilt sich, und wird nicht weniger.
Es verschenkt sich, und wird niemals leer.
Die PERSÖNLICHKEIT liebt wie ein Kerzenlicht,
das flackert, wenn sich ein Windhauch nähert.

Die SEELE liebt wie die Sonne,
deren Strahlen auf Gerechte und Ungerechte fallen,
weil sie ihrem WESEN treu bleibt
und nicht der Würdigkeit dessen, der sie empfängt.
MITGEFÜHL ist die Schaukel
zwischen Himmel und Erde,
auf der jede SEELE sanft ruht.
Es ist das Salz in der Träne,
das uns daran erinnert,
dass Schmerz und Würde
aus demselben Meer stammen.

Wenn du darum frei sein willst,
so löse nicht zuerst die Bindungen zum Anderen,
sondern die Bindungen zu deinen eigenen SCHATTEN.
Denn kein Mensch ist weniger frei
als jener, der sich selbst bewacht
wie ein Torhüter eines leeren Hauses.

Sei wie die Quelle, die ihre Reinheit nicht verliert,
wenn man aus ihr trinkt.
Sei wie der Olivenbaum,
der Wurzeln in Felsen treibt
und dennoch seine Früchte
dem Vorüberziehenden schenkt, der hungrig ist.

AUTONOMIE ist das Gebet,
das du im Geheimen sprichst.
MITGEFÜHL ist der Segen,
der sich daraus ergießt.
Und wenn du eines Tages
zwischen SEELE und PERSÖNLICHKEIT unterscheidest
wie zwischen Himmel und Wolke,
zwischen Meer und Welle,
zwischen Feuer und Flamme,
dann wirst du erkennen:

Die PERSÖNLICHKEIT ist der Pfad,
durch den sich die SEELE ausdrückt.
Die PERSÖNLICHKEIT ist der Mantel,
doch die SEELE ist der Leib aus Licht.
Und wer aus der SEELE lebt,
braucht weder Mauern noch Waffen,
denn sein HERZ ist ein offenes Zelt
unter der Sternenpracht des EWIGEN.

Quelle: Otfried Weise

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