2015-06-19

Paarbeziehungen: Das Streben nach Unabhängigkeit untergräbt unsere Beziehungsfähigkeit

Die meisten Beziehungsratgeber verkünden einen ausgemachten Blödsinn, wenn sie behaupten, nur wer sich selbst genug sei, könne wirklich lieben. Unabhängigkeit ist für diese Autoren die Voraussetzung für eine gesunde Partnerschaft. Ist Unabhängigkeit in Liebesdingen aber wirklich der Schlüssel zum Glück? Die Referentin, Seminarleiterin und Autorin Vivian Dittmar über den Mythos Unabhängigkeit.

© Christian Gonzalez Flickr.com
Sollte wahre Liebe den Partner frei lassen? Kann wirklich nur der richtig lieben, der sich selbst genug ist? Ist das Einander-brauchen bereits der Einstieg in die Hölle der Co-Abhängigkeit?

Unabhängigkeit – das hört sich super an, passt es doch zu unserer aktuellen kollektiven Fixierung auf Individualisierung.

Von klein auf wird uns eingeflüstert, dass jeder seines Glückes Schmied ist und dass Abhängigkeit etwas für Schwächlinge oder Heimchen am Herd sei. Abhängigkeit bedeutet für viele, angreifbar und verletzlich zu sein. Abhängigkeit bedeutet für viele auch, dass andere Macht über sie haben. Also ist Abhängigkeit ein absolutes No-go. Diese Überzeugung deckt sich wunderbar mit den Zielen des Kapitalismus. Wer unabhängig sein möchte, wird sich vor allem darauf konzentrieren, ausreichend Geld zu verdienen, um für sich selbst sorgen zu können. Allzu große Investitionen in Beziehungen zu anderen Menschen sind aus dieser Perspektive eine äußerst zweifelhafte Angelegenheit, daher unterlässt man sie auch.

Konsum als Ersatzbefriedigung

Die Defizite, die wir als soziale Wesen aufgrund dieser Strategie unweigerlich entwickeln, versuchen wir durch Ersatzbefriedigungen in Form von Konsum zu kompensieren. Die Werbung hilft uns dabei, die entsprechenden Produkte mit unserer Sehnsucht nach Beziehung zu assoziieren: das Deo, das Auto, der Drink, das Outfit als Garant dafür, dass unsere Sehnsucht nach Miteinander, nach Zugehörigkeit endlich eine Antwort findet. Aus diesen Ersatzbefriedigungen entwickeln sich jedoch häufig Süchte, die in immer kürzeren Abständen immer höhere Potenzen erfordern, um den erwünschten Effekt zu bewirken. Indes, das eigentliche, urmenschliche Bedürfnis nach Beziehung, nach Kontakt, nach wirklichem Miteinander wird nicht gestillt. Dieses „wirkliche Miteinander“ kann nur entstehen, wenn wir zulassen, dass wir einander brauchen. Ich sage „zulassen“, denn heute ist es mehr denn je eine Frage unserer persönlichen Entscheidung, ob wir uns auf jemanden einlassen oder nicht. Das war früher anders.

Wir brauchen einander

Menschen haben schon immer Beziehungen geformt und gepflegt, weil sie aufeinander angewiesen waren. Anders als früher haben wir heute tatsächlich in einem geradezu erschreckenden Ausmaß die Möglichkeit, nur noch Menschen zu benötigen, die wir nie gesehen haben, zu denen wir also keine Beziehung aufbauen. Ich spreche von den Mitarbeitern der Unternehmen, die all unsere Produkte herstellen und uns mit ihren Dienstleistungen alle nur irgendwie käuflichen Bedürfnisse zu erfüllen versuchen.

Klar, das hat einerseits sehr große Vorteile: Wir können uns in einem noch nie dagewesenen Ausmaß unsere Beziehungen selbst aussuchen. Wow, das ist wirklich fantastisch! Es hat jedoch auch gravierende Nachteile, bzw. es bringt ganz neue Herausforderungen mit sich.

Eine davon ist die Frage, wie wir Beziehungen entstehen lassen, wenn wir in allen Bereichen auch alleine klar kommen? Anders als in traditionellen Kulturen ist Beziehung bei uns kein Nebeneffekt unseres Alltags mehr. Der Trend zunehmender sozialer Isolation, die Vereinsamung von Menschen inmitten der Gesellschaft, ist in den reichen Industrienationen ein Symptom dieser Entwicklung.

Veränderte Machtgefälle und Rollenverteilung

Ein weiterer Nebeneffekt ist, dass alte Schemata plötzlich nicht mehr greifen, nach denen die Beziehungsgefüge unserer Vorfahren sich über Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende, strukturierten.

Das deutlichste Beispiel dieser Entwicklung ist das veränderte Machtgefälle zwischen Männern und Frauen. Mit zunehmender Emanzipation wurde eine wachsende Anzahl von Frauen sich ihrer Unabhängigkeit bewusst, entschied sich gegen die klassische Rollenverteilung und erteilte damit dem früheren Machtgefälle eine Absage.

Heute ist es für die meisten Paare selbstverständlich, eine Beziehung auf Augenhöhe anzustreben — was allerdings noch lange nicht bedeutet, dass sie wissen, wie das geht. Wenn es schlecht läuft, bemühen sich beide unserem kulturellen Ideal der Unabhängigkeit gerecht zu werden und bemerken zu spät, dass dies noch kein Garant für eine gelingende Beziehung ist. In dieser Konstellation sind Machtkämpfe oder eine zunehmende Entfremdung vorprogrammiert, da niemand ehrlich mit seinen wirklichen Bedürfnissen ist.

Es fehlt das Wissen darüber und die Übung darin, mit auftretenden widersprüchlichen Bedürfnissen konstruktiv umzugehen. Es fehlen die Vorbilder, wie ein Miteinander auf Augenhöhe gelingen kann, ohne dass wir einander eine heile Welt vorspielen, wo wir immer einer Meinung sind oder in Machtkämpfe abgleiten.

Voraussetzung für die Entwicklung dieser Fähigkeiten ist, dass wir reinen Tisch machen und einer simplen Tatsache ins Auge sehen: Wir brauchen einander!

Zwar kann ich mich aus meiner menschlichen Erfahrung herausmeditieren oder mir schon mit einem bescheidenen Vermögen alle möglichen Bedürfnisbefriedigungen erkaufen: Wir Menschen sind und bleiben jedoch soziale Wesen, die andere Menschen brauchen, um glücklich zu sein.
Beziehungspotenzial statt Macht- und Konsumpotenzial

Erst wenn wir nicht mehr versuchen, dieser Tatsache auszuweichen, können wir beginnen, einen konstruktiven Umgang damit zu entwickeln. Erst dann können wir uns ganz aus dem Machtparadigma verabschieden, in dem Bedürfnisse in Beziehungen immer Machtpotenziale waren und auch dem Konsumparadigma, in dem Bedürfnisse vor allem Konsumpotenziale sind, den Rücken kehren. Dann bewegen wir uns in das Beziehungsparadigma, in dem Bedürfnisse eine ganz andere Bedeutung haben. Sie sind hier weder Macht- noch Konsumpotenzial, sie sind Beziehungspotenzial.

Irrglaube unserer Kultur

Die Idee, dass Erwachsensein bedeutet, niemanden zu brauchen, ist ein fundamentaler Irrglaube unserer Kultur. Tatsächlich ist es der Halbwüchsige, der davon träumt, der Welt den Mittelfinger entgegenstrecken zu können und auf seinem Motorrad in den Sonnenuntergang zu entschwinden.

Wirkliches Erwachsensein bedeutet, dass ich um meine Eigenständigkeit genauso weiß wie um meine Abhängigkeit und noch dazu gelernt habe, diese in gesundem Gleichgewicht zueinander in mir zu tragen. Konkret bedeutet dies, dass es in einer reifen Beziehung immer beides gibt: brauchen und nicht brauchen, Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Erst in diesem Wechselspiel wird ein respektvolles, würdevolles und damit auch erfüllendes Miteinander möglich. Insofern ist schon was dran am Mythos Unabhängigkeit als Schlüssel zum Glück.

Aber es ist eben, wie so oft, nur die halbe Wahrheit.

Über die Autorin
Vivian Dittmar
Website

Sie engagiert sich als Referentin, Seminarleiterin, Autorin und Mutter für eine ganzheitliche Entwicklung von Mensch, Gesellschaft, Wirtschaft und Bewusstsein. Sie gründete die Be the Change Stiftung und verlagerte ihr Engagement damit auf den gesamtgesellschaftlichen Wandel, ist im Rahmen des Terra Institutes als Unternehmensberaterin tätig und begleitet Wandlungsprozesse zu einer Kultur der Nachhaltigkeit.

Buchtipp:
Vivian Dittmar
beziehungsweise
Beziehung kann man lernen

Gelesen bei: https://www.sein.de/paarbeziehungen-das-streben-nach-unabhaengigkeit-untergraebt-unsere-beziehungsfaehigkeit/

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