2025-11-26

Otfried Weise: DIE GEBURT DER SCHÖNHEIT


Meine lieben Freundinnen und Freunde,
Weggefährten auf dem Pfad des inneren Lebens,
ich möchte heute mit euch eine, Wahrheit betrachten,
die so alt ist wie das menschliche Herz und doch
immer wieder neu begriffen werden will:
Der Mensch lebt von Kontrasten.
Gleichmaß, reine Stille, ungebrochene Harmonie –
sie sind natürlich wohltuend, doch nähren sie uns nicht auf Dauer.
Denn wo keinerlei Spannung ist, wo nichts sich reibt,
wo das Gemüt nur Einerlei erhält, beginnt es zu ermüden, wie ein Vogel, der nicht fliegen darf.

Konflikte hingegen, die ehrlichen,
die stillen oder auch die lauter werdenden,
sind das heilsame Salz in der Suppe unserer Reifung.
Sie sind nicht Feinde, sie sind Botschafter.
Bevor wahre Harmonie entstehen kann,
müssen die Karten auf dem Tisch liegen –
auch jene, die wir vielleicht nie ausspielen wollten.
Denn erst, wenn das Dunkle, das Widersprüchliche,
das paradoxe und sogar das „verbotene“ Denken
im Raum sein darf, beginnt das Gemüt zu atmen.
Jeder Konflikt stellt ein Gespräch zweier Bedürfnisse dar,
die beide legitim sind.
Sicherheit ruft nach uns – doch Freiheit ebenso.
Zugehörigkeit flüstert – doch Individualität singt.
Wenn wir eine dieser Stimmen unterdrücken,
verstummt sie nicht – sie wandert in den Schatten.
Wenn wir sie jedoch einladen, gesellt sich Klarheit zu uns, wie ein Gast, der sich lange nicht in unsere Runde traute.

Und genau hier beginnt das Wirken jenes esoterischen Prinzips,
das Alice Bailey den Vierten Strahl nennt:
HARMONIE DURCH KONFLIKT.
Das klingt paradox – und doch zeigt es den echten Weg der Schönheit, den Weg der Kunst.
Denn Schönheit ist kein stilles Geschenk, das uns ohne Mühe zufällt. Schönheit ist furchtlos verarbeiteter Widerspruch,
gestaltete Spannung, veredelter Konflikt.
Alle Kunst entsteht aus diesem Feuer.
Jeder Künstler weiß es – bewusst oder unbewusst.
Der Vierte Strahl ist der Atemzug zwischen Chaos und Ordnung,
aus dem Musik entsteht, in dem Bilder geboren werden,
in dem Form und Leben sich berühren.

Wir veranschaulichen das mit einigen Beispielen aus dem großen Atelier des Lebens :
Da ist der Tänzer, der zwischen strenger Technik und wilder Freiheit steht. Lange glaubt er, sich entscheiden zu müssen.
Doch erst, als er beide Kräfte in sich zulässt, bewegt er sich wie das Leben selbst – präzise und verwegen zugleich.
Hier formt der Konflikt die Schönheit.

Da ist die Malerin, die das Unschöne, das Rohe, das Unfertige fürchtete. Erst als sie auch diese Schatten zulässt, beginnt ihre Leinwand zu sprechen. Das Dunkel macht das Licht erst sichtbar.
So wirkt die alchemistische Kraft des Vierten Strahls.

Da ist der spirituelle Schüler, der zwischen Ideal und Realität hin- und hergerissen ist.
Er hält seine Unvollkommenheiten für Fehler, bis er erkennt:
Der Riss ist der Ort, an dem das Licht eintritt.
Die Spannung wird zum Lehrmeister.

Da ist das Ensemble von Musikern,
das dissonante Töne zunächst vermeiden will.
Doch als sie die Dissonanz zu akzeptieren lernen,
heben sie die Musik auf eine neue Ebene.
Die Harmonie wird erst durch die Reibung möglich –
und dadurch umso kostbarer.

Und schließlich: der Mensch selbst.
Das tägliche Ringen zwischen Herz und Verstand,
Zwischen Rückzug und Aufbruch,
Zwischen Zweifel und Mut –
das alles sind die Werkzeuge,
mit denen das Leben an uns arbeitet.
Wir dürfen sie nicht verfluchen,
sondern als Meißel sehen,
die uns zu Kunstwerken formen.

In diesem Sinne ist jeder Konflikt,
wenn er bewusst betrachtet und nicht verdrängt wird,
ein schöpferischer Akt.
Wir wandeln Reibung in Erkenntnis,
Spannung in Ausdruck,
Chaos in eine höhere Ordnung.

Schönheit ist nicht die Abwesenheit von Konflikt.
Schönheit ist Konflikt, der erkannt, gehalten und in Musik verwandelt wurde.
So segnet uns der Vierte Strahl – nicht mit Frieden ohne Tiefe,
sondern mit Tiefe, die Frieden hervorbringt.

Und so lade ich euch ein, Widersprüche nicht länger als Gegner zu sehen, sondern als Verbündete.
Denn dort, wo wir das Unangenehme, das Unerwartete,
das scheinbar Unpassende willkommen heißen,
öffnet sich ein Raum, in dem Harmonie nicht mehr hergestellt werden muss – sondern von selbst Gestalt annimmt,
wie eine Melodie, die schon immer da war.
Wir lernen jetzt, Schönheit zu gestalten aus dem, was uns herausfordert.

Mögen wir Mut finden, wo Spannung uns ruft.
Und mögen wir erkennen, dass die Seele ein Künstler ist,
der Konflikte nicht fürchtet, sondern aus ihnen das Licht gewinnt,
das sie zum Leuchten bringt.

Quelle: Otfried Weise

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