2025-11-27

Otfried Weise: EIN HEILSAMER RAUM


Wir leben in einer Zeit großer Umbrüche, in der viele Menschen versuchen, ihre Verantwortung zu tragen, ohne daran allzu sehr zu leiden. Sie spüren die Last der täglichen Pflichten, die Erwartungen anderer, die unausgesprochenen Sorgen, die sie für sich und manchmal wie im Stillen auch für ihre Partner mittragen.

Diese Last ist zuzeiten nicht sichtbar und doch spürbar wie ein Rucksack voller Steine, der jeden Tag ein wenig schwerer wird.

Und doch: In jedem Menschen leuchtet ein innerer Kern, der nie müde wird – ein Ort, an dem Liebe, Klarheit und Stille wohnen. Wenn alles im Außen drängt, flüstert dieser Kern leise: „Halte inne. Lausche. Es ist nicht nötig, alles jetzt zu lösen.“

Die Probleme können nicht endlos ausdiskutiert werden. Denn Worte, die zu lange im Kreis laufen, verlieren ihre Kraft und werden zu Funken, die erneut ein Feuer entfachen. Manchmal ist das Liebevollste, was wir tun können, stiller zu werden – nicht aus Flucht, sondern um Raum entstehen zu lassen, damit das, was essentiell ist, wieder hörbar wird.

Dieser Rückzug ist kein sich Abwenden.

Er ist ein Sich-Hinwenden – zu sich selbst, zur inneren Weisheit, zur Stille, die uns alle verbindet.

Er ist eine Einladung, dem eigenen Nervensystem – und dem des Partners – zu erlauben, wieder weich zu werden, zu entkrampfen, zu atmen.

Denn besonders in Zeiten der Belastung hat niemand wirklich „recht“.

Jeder versucht nur, mit seinen eigenen Grenzen zurechtzukommen, mit den eigenen Wunden, Mustern, Hoffnungen.

Wenn wir das erkennen, verwandelt sich der Impuls des Rechthabens in etwas Größeres: Mitgefühl.

Mitgefühl für den anderen – und für sich selbst.

Ich gebe euch ein paar Beispiele

• In der Partnerschaft
Eine Person möchte reden, klären, definieren. Die andere braucht Stille, Wärme, Zeit.

Beide haben recht – oder keiner.

Erst wenn beide spüren: „Wir kämpfen nicht gegeneinander, sondern wirken miteinander und nutzen die Wellen des Lebens, damit sie uns tragen“, entsteht ein heilsamer Raum.

In diesem wirkt nicht Logik, sondern Liebe.

• In der Familie
Ein überlasteter Elternteil steht im Chaos des Alltags, denkt an Rechnungen, Termine, Sorgen der Zukunft.

Und dann lächelt ein Kind – ganz selbstverständlich, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft.

In diesem Lächeln schmilzt etwas im Herzen, das festgehalten war.

Für einen Moment wird spürbar: Das Jetzt ist genug. Hier bin ich. Hier atme ich. Hier trägt mich das Leben.

• Im Beruf
Ein Kollege wirkt abweisend, läuft im eigenen Stress gefangen. Doch hinter den harten Konturen verbirgt sich vielleicht jemand, der nicht weiß, wie er Hilfe annehmen soll.

Ein einziger mitfühlender Satz, ein mitfühlender Blick kann ein unsichtbares Netz spannen: eine Erinnerung daran, dass wir alle auf derselben Seite stehen – Suchende, Lernende, Ringende.

• Im eigenen Inneren
Es gibt Tage, an denen die Welt laut ist und die Seele leise.
Tage, an denen der Kopf sagt: „Halte durch!“, während das Herz flüstert: „Lass los.“
Und manchmal führt gerade das Loslassen zurück in die eigene Stärke.
Ein stilles Gebet, eine bewusste Atmung, ein kurzer Moment mit geschlossenen Augen kann wie eine Hand sein, die sich von innen auf die Brust legt und sagt:
„Du musst nicht alles allein tragen. Du bist gehalten – von etwas Größerem, das dich kennt.“

Der Weg des Vertrauens

Vertrauen ist kein Konzept.

Es ist ein innerer Zustand, der entsteht, wenn wir aufhören, das Leben zu zwingen, und beginnen, uns mit ihm zu bewegen.

Vertrauen bedeutet, zu spüren, dass es eine tiefere Ordnung gibt –
eine, die nicht immer sichtbar ist, aber immer wirkt.
Wie unterirdische Wurzeln, die Bäume miteinander verbinden.
Wie ein leiser Strom von Licht, der alle Herzen berührt, selbst in dunklen Zeiten. Vertrauen heißt:

Ich öffne mich, dass das Leben mich führt – auch durch Ungewissheit.
Ich erlaube, dass Entwicklung geschieht, ohne dass ich alles kontrolliere.
Ich öffne mich für Hilfe – sichtbar und unsichtbar.

Die stillen Augenblicke

Zwischen zwei schweren Gesprächen kann ein einziges gemeinsames Schweigen wie Balsam wirken.
Zwischen zwei Sorgen kann ein Blick voller Güte einen ganzen Tag heilen.
Zwischen zwei Tränen kann ein Lächeln daran erinnern, dass Liebe nicht verschwindet.
Diese kleinen, unscheinbaren Momente sind wie Lichtfunken im Nebel.
Sie zeigen, dass Verbundenheit tiefer reicht als jede Krise.

Sie sind die Fäden, die uns halten – fein, unsichtbar, aber unzerreißbar, wenn wir ihnen vertrauen.

Es darf schwer sein.
Es darf chaotisch sein.

Es darf Zeiten geben, in denen du dich fragst, wie du all das tragen sollst.

Doch inmitten des Chaos wirken Kräfte, die jenseits des Sichtbaren existieren – Kräfte, die uns halten, führen, erinnern:

Mitgefühl.
Intuition.
Stille.
Vertrauen.

Und eine Liebe, die größer ist als jede Herausforderung.

Quelle: Otfried Weise

1 Kommentar:

  1. Herzlichen Dank lieber Otfried für diese liebevollen Zeilen 💖

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