2025-12-22

Otfried Weise: DIE BEDEUTUNG VON ERWARTUNGEN IM TÄGLICHEN UMGANG WIE IN DER SPIRITUALITÄT


Gibt es sinnvolle Erwartungen?
 
Ja, es gibt sie: sie entstehen aus einem Zusammenspiel von Normen, Erfahrungen, Kommunikation und Rollen. Eine Analyse des Verhaltens hilft zu klären, wann Erwartungen sinnvoll sind und wann sie zur Quelle von Konflikten werden.

Sinnvolle Erwartungen sind Annahmen darüber, wie sich andere verhalten sollten, die auf nachvollziehbaren Grundlagen beruhen:

• Explizite Absprachen (Versprechen, Verträge)
• Soziale Normen (Höflichkeit, Fairness)
• Rollen und Verantwortlichkeiten (z. B. Führungskraft, Partner, Freund)
• Vergangenes Verhalten (Konsistenz)
Sie unterscheiden sich von Wunschdenken, das keine klare Grundlage hat.

Wann sind Erwartungen sinnvoll?
Wenn eine Person über längere Zeit ein bestimmtes Verhalten zeigt, entsteht eine erfahrene Erwartung. Wird diese plötzlich verletzt, ist Enttäuschung psychologisch verständlich.
Klar kommunizierte Erwartungen sind eher sinnvoll.
Unausgesprochene Erwartungen sind eine häufige Konfliktquelle.
Viele Enttäuschungen entstehen nicht durch Fehlverhalten, sondern durch nicht abgeglichene Annahmen.
In asymmetrischen Beziehungen (z. B. Arbeit, Familie) gelten oft implizite Erwartungen, die sozial akzeptiert sind – aber nicht unbedingt fair oder berechtigt.

Erwartungen werden dann problematisch
• Wenn sie nicht ausgesprochen wurden
• Wenn sie auf Interpretationen statt Fakten beruhen
• Wenn sie die Autonomie anderer einschränken
• Wenn sie auf eigenen Bedürfnissen basieren, aber als „Pflicht“ des anderen erlebt werden
Dann können Erwartungen in Anspruchsdenken kippen.

Menschen neigen dazu, ihr
• eigenes Verhalten situativ zu erklären („Ich konnte nicht anders“)
• fremdes Verhalten charakterlich zu bewerten („Er ist unzuverlässig“)
Dies verzerrt die Bewertung, ob eine Erwartung wirklich sinnvoll oder berechtigt ist.

Sinnvolle Erwartungen existieren, aber sie sind keine Selbstverständlichkeit.
Sie sind dann verständlich, wenn sie:
• auf klaren Vereinbarungen oder stabilen Mustern beruhen
• realistisch und überprüfbar sind
• offen kommuniziert wurden
Verhaltensanalyse hilft, zwischen legitimer Enttäuschung und unrealistischer Erwartung zu unterscheiden.

Nicht kommunizierte Erwartungen und unausgesprochene Wünsche führen häufig zu Enttäuschungen, weil sie innerlich als selbstverständlich erlebt werden, für andere jedoch unsichtbar bleiben und nicht nachvollzogen werden können. Psychologisch betrachtet entsteht dabei eine Art Vertrag, der jedoch nie abgeschlossen wurde.

Menschen neigen dazu, eigene Bedürfnisse als logisch oder „normal“ zu empfinden und übertragen diese Annahme auf ihr Gegenüber. Bleibt die Erfüllung aus, wird dies nicht als Informationsdefizit, sondern als Zurückweisung oder Fehlverhalten interpretiert. Die Enttäuschung richtet sich dann weniger auf die Situation als auf die Person.

Unausgesprochene Wünsche unterscheiden sich von Erwartungen dadurch, dass sie oft emotional stärker aufgeladen, aber weniger reflektiert sind. Sie entspringen Nähe, Hoffnung oder dem Wunsch nach Bestätigung. Gerade deshalb werden sie nicht klar formuliert – aus Angst vor Ablehnung oder weil man „verstanden werden möchte, ohne erklären zu müssen“. Diese implizite Erwartung von Gedankenlesen ist jedoch unrealistisch.

Hinzu kommt, dass nicht kommunizierte Erwartungen keine Korrekturmöglichkeit bieten. Solange sie unausgesprochen bleiben, kann das Gegenüber weder zustimmen, widersprechen noch verhandeln. Enttäuschung wird damit unvermeidlich, obwohl objektiv kein Fehlverhalten vorliegt.

Das bedeutet
• Erwartungen ohne Kommunikation erzeugen stille Maßstäbe, an denen andere scheitern müssen.
• Unerfüllte Wünsche werden zu Vorwürfen, obwohl sie nie als Bitte formuliert wurden.
• Enttäuschung ist in diesen Fällen weniger ein Zeichen von Verletzung durch andere als ein Hinweis auf fehlende Selbstoffenlegung.

Erst durch Kommunikation werden Wünsche verhandelbar und Erwartungen überprüfbar – ohne sie bleiben sie Projektionen mit hohem Enttäuschungspotenzial.

Nicht kommunizierte Erwartungen und unausgesprochene Wünsche bewegen sich im Zwischenraum von Selbstbild und Weltbild. Sie entstehen dort, wo das Innere still voraussetzt, dass das Äußere folgen möge. Philosophisch betrachtet liegt darin ein kategorialer Fehler: Das Eigene wird zum Maßstab des Anderen erhoben, ohne diesen je mitgeteilt zu haben.

Therapeutisch zeigt sich hier ein zentrales Spannungsfeld menschlicher Beziehungen: das Bedürfnis nach Verbundenheit bei gleichzeitiger Angst vor Verletzbarkeit. Wünsche bleiben unausgesprochen, weil ihr Aussprechen sie angreifbar macht. Erwartungen bleiben unausgesprochen, weil sie als selbstverständlich erlebt werden. Beides schützt kurzfristig vor Ablehnung, erzeugt langfristig jedoch Entfremdung.

Enttäuschung ist in diesem Sinne weniger ein Beweis für das Versagen des Anderen als ein Hinweis auf eine innere Abmachung, die nie im Dialog überprüft wurde. Der Mensch leidet nicht primär daran, dass der Andere anders handelt, sondern daran, dass die Wirklichkeit nicht mit der eigenen stillen Ordnung wie Hoffnung übereinstimmt.

Philosophisch lässt sich sagen: Wo Erwartungen nicht ausgesprochen werden, wird der Andere zum Objekt einer Projektion. Er soll erfüllen, ohne zu wissen, worin die Aufgabe besteht. Damit wird ihm unbewusst Verantwortung für ein inneres Erleben übertragen, das nur der Erwartende selbst kennt. In der existenziellen Perspektive ist dies ein Versuch, die eigene Bedürftigkeit zu externalisieren.

Therapeutisch ist Enttäuschung daher kein Gegner, sondern ein Signal. Sie weist auf eine Stelle hin, an der Selbstverantwortung und Beziehung verwechselt wurden. Die Frage ist nicht: Warum hat der Andere nicht verstanden? Sondern: Was habe ich mir selbst nicht zugemutet auszusprechen?

Heilend wirkt hier nicht das Erzwingen von Erfüllung, sondern die Bewusstwerdung der eigenen Wünsche. Werden sie ausgesprochen, verlieren sie ihren stillen Absolutheitsanspruch und werden zu dem, was sie sein können: Angebote zum Kontakt statt Prüfsteine der Beziehung.

In diesem Sinne bedeutet Kommunikation nicht, Erwartungen durchzusetzen, sondern sich selbst sichtbar zu machen. Und erst dort, wo Sichtbarkeit möglich ist, kann Beziehung frei von stillen Schulden entstehen.

Entscheidende Schritte zur Überwindung von Erwartungen aller Art bestehen darin, das Mangelbewusstsein und die Opferrolle aufzugeben, und stattdessen bewusst
in die SCHÖPFERKRAFT ZU GEHEN.

Auf der spirituellen Ebene sind Erwartungen weder sinnvoll noch gerechtfertigt, da dort einfache lineare Logik nicht greift. „Aufstieg“ oder „Erleuchtung“ sind weder berechenbar noch vorhersagbar, können auch nicht verdient oder erworben werden.
AUS UNSERER SICHT HANDELT ES SICH DABEI UM GNADE

Bild: Chanakya Lama

Quelle: Otfried Weise

1 Kommentar:

  1. Zit.: Philosophisch lässt sich sagen: Wo Erwartungen nicht ausgesprochen werden, wird der Andere zum Objekt einer Projektion. Er soll erfüllen, ohne zu wissen, worin die Aufgabe besteht. Damit wird ihm unbewusst Verantwortung für ein inneres Erleben übertragen, das nur der Erwartende selbst kennt. In der existenziellen Perspektive ist dies ein Versuch, die eigene Bedürftigkeit zu externalisieren.
    Da würde ich noch hinzu fügen: die Wünsche immer am besten in "Ichform" ausdrücken. Ich wünsche mir, ich hätte gerne, ich finde es schön wenn usw.. Bitte kein "du sollst, du mußt, du könntest" da es immer um da ICH, das was man persönlich möchte geht.

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