
Was die moderne Welt als einen einzigen heiligen Tag sieht, ist in Wahrheit das letzte Siegel einer uralten kosmischen Operation – eine, die schon lange vor der Einführung von Lehren, Glaubensbekenntnissen oder Kalendern beobachtet wurde. Bei diesem Moment ging es nie um Glauben. Es ging um Ausrichtung.
In der tiefen Antike Ägyptens wurde die Zeit selbst durch den Himmel gelesen. Der Himmel war die Heilige Schrift, und die Sonne war das lebende Hieroglyphenzeichen.
Zur Wintersonnenwende sinkt die Sonne auf ihren niedrigsten sichtbaren Thron. Drei Tage lang bleibt sie stehen – für das menschliche Auge unbeweglich. Kein Aufstieg. Kein Abstieg. Eine heilige Schwebe. Für die Menschen der Antike war dies kein metaphorischer Tod, sondern die Beisetzung der Sonne. Das Licht war in das Duat eingetreten – das unsichtbare Reich –, wo in der Dunkelheit eine Verwandlung stattfindet.
Diese drei Tage waren nicht leer. Sie waren eine Zeit der Schwangerschaft.
Am vierten Morgen, dem heutigen 25. Dezember, verschiebt sich die Sonne. Ganz leicht. Nach Norden. Eine Bewegung, die so subtil ist, dass nur Eingeweihte sie bemerken würden. Doch diese Bewegung bedeutete alles: Das Leben hatte gesiegt. Das Licht war nicht verschwunden – es hatte sich neu konfiguriert.
Dies war das Reich von Khepri, der skarabäusköpfigen Kraft des Werdens. Kein Gott im modernen Sinne, sondern ein Prinzip: die Intelligenz, die Verfall in Entstehen, Nacht in Morgendämmerung, Tod in Kontinuität verwandelt. Khepri lässt nicht wieder auferstehen, was einmal war. Er erschafft, was jetzt sein muss.
An derselben Schwelle trat Ägypten in den heiligen Monat Khoiak ein, der den Mysterien des Osiris gewidmet war. Das waren keine Geschichten, die man Kindern erzählte. Es waren Riten, die von Priestern vollzogen wurden und das Drama der Sonne in der menschlichen Seele widerspiegelten. Osiris – zerstückelt, versteckt, still – wurde nicht in der Welt der Lebenden, sondern im Unsichtbaren wieder zusammengesetzt. Seine Wiederherstellung markierte den Triumph der Ordnung über die Auflösung.
Der Höhepunkt dieser Riten fiel auf den 29. Tag des Khoiak – genau das Datum, das später als 25. Dezember festgelegt wurde, als der ägyptische Kalender in die christliche Zeitrechnung übernommen wurde. Der Name änderte sich. Die Mathematik blieb gleich.
Im Mittelpunkt dieser Riten stand die Djed-Säule – die Wirbelsäule von Osiris. Stabilität. Vertikalität. Kontinuität durch Chaos. Sie wurde bei der Sonnenwende feierlich aufgestellt, oft aus Holz gefertigt, mit Stoff umwickelt und mit lebendem Grün geschmückt. Das war das Leben, das wieder aufrecht stand, während die Welt schlief. Lange vor Ornamenten und Kerzen war dies die ursprüngliche Mittwintersäule – die Achse der Erneuerung.
Aus diesem wiederhergestellten Körper von Osiris ging Horus, das Kind, hervor – nicht nur eine neugeborene Gottheit, sondern die sichtbare Rückkehr der göttlichen Ordnung in die Welt der Formen. In Tempelritualen wurde eine Statue des Säuglingssonnengottes bei Tagesanbruch herausgetragen, damit das Volk sie sehen konnte. Das Licht war nicht mehr verborgen. Das Kind war gekommen.
Es war kein Zufall, dass dieser Moment auch das Fest von Sokar, dem Herrn der tiefsten Schichten der Unterwelt, markierte. Seine Barke wurde durch den Tempel getragen und symbolisierte den letzten Durchgang der Sonne durch die dichtesten Schichten der Dunkelheit vor ihrer Wiedergeburt. Sokar regierte über das, was ertragen werden musste, bevor Erleuchtung möglich war.
Dies ist der Teil, den moderne Erzählungen auslassen.
Beim 25. Dezember ging es nie darum, der Dunkelheit zu entfliehen.
Es ging darum, sich bewusst darauf einzulassen, sie vollständig zu ertragen und verwandelt daraus hervorzugehen.
Die Menschen der Antike wussten: Licht entsteht nicht in Behaglichkeit.
Es entsteht in Stille, Druck und Schweigen.
Und jedes Jahr beweist die Sonne dies aufs Neue.
Die Frage ist nicht, ob das Licht zurückkehrt.
Die Frage ist, ob wir es tun.
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