2016-09-22

Gerald Hüther: Die Anatomie des Hass


WER HASST, BELOHNT SICH SELBST

Die Anatomie des Hass: Im Gespräch mit dem WIENER erklärt der deutsche Neurobiologe Gerald Hüther, was Hass eigentlich ist, wie Amokläufe verhindert werden können und warum unser Schulsystem grundsätzlich verändert gehört, um die Netzwerke der Aggression zu schwächen.



Herr Dr. Hüther: Was ist Hass, neurobiologisch gesehen?

Hass ist eine von vielen Antworten auf Angst. Neurobiologen nennen es eine Bewältigungsstrategie. Wenn Menschen Angst haben, kommt es zu einer großen Übererregung in ihrem Hirn, die sich auf tiefer liegende Hirnbereiche überträgt und dazu führt, dass eine sogenannte Angst- und Stressreaktion ausgelöst wird. Diese Angst- und Stressreaktion hat zur Folge, dass Notfallprogramme aktiviert werden, um aus der Angstsituation herauszukommen.

Wie sehen diese Programme aus?

Wir fallen in banale Muster zurück, die in früheren Lebensphasen in Form von neuronalen Vernetzungen im Hirn verankert wurden. Damals hat jeder Mensch etwas gefunden, das ihm in seiner Angst geholfen hat. Das sind nicht gerade weitsichtige und komplexe Möglichkeiten, aber sie sind sehr kraftvoll, und das ist der Sinn der Übung. Am Ende helfen sehr fest verbahnte und damit tief im Hirn verankerte Strategien wie Angriff, Flucht oder ohnmächtige Erstarrung. Die höheren Bereiche im Hirn, mit denen man umsichtiger agieren könnte, sind in solchen Situationen nicht nutzbar, weil da oben so ein großes Durcheinander herrscht.

Wir greifen also im Prinzip auf simple Reaktionen aus unserer Kindheit zurück?

Menschen, denen es früher geholfen hat, wild um sich zu schlagen, werden in ähnlichen Situationen wieder wild um sich schlagen. Anderen hat es geholfen, den Kopf in den Sand zu stecken und zu warten, bis das Übel, etwa das Brüllen von Vater und Mutter, vorbei ist. Je häufiger eine dieser Strategien geholfen hat, umso tiefer ist sie im Hirn verankert. Wenn man später als Erwachsener wieder Angst hat, können diese alten Muster automatisch geweckt werden und erneut durchbrechen.

Wir können also gar nichts gegen den Hass tun, wenn diese Strategien so tief in uns verwurzelt sind?

Menschen, die die Erfahrung gemacht haben, dass es ihnen hilft, andere abzuwerten oder, wie wir sagen, zu hassen, sehen darin eine Möglichkeit, eine Bedrohung zu überwinden. Man erklärt den als bedrohlich empfundenen Menschen zum Objekt. Man will mit ihm nichts mehr zu tun haben, man diffamiert ihn, man jagt ihn davon.

Wird, simpel ausgedrückt, eine Belohnung ausgeschüttet, wenn man hasst?

Das hört sich ein bisschen komisch an, aber alles, was Menschen hilft, wieder Ruhe ins Hirn zu bekommen, wird wiederum im Hirn verankert. Wenn wir es wissenschaftlich und damit ein bisschen komplizierter ausdrücken wollen: Durch die Angst kommt es zu einer schweren Störung der Kohärenz, also zu einem großen Durcheinander im Hirn und in weiterer Folge auch im Körper. Alles, was dem Menschen hilft, dieses Durcheinander zu verringern, also wieder kohärenter zu werden, führt zur Aktivierung dieses sogenannten Belohnungssystems im Hirn.

Wie funktioniert das?

Durch aktivierte Nervenzellen im Mittelhirn werden sogenannte neuroplastische Botenstoffe ausgeschüttet, die so ähnlich wie ein Dünger aufs Hirn wirken. Sie führen dazu, dass jene Netzwerke ausgebaut und verstärkt werden, die man aktiviert hat, um ein Problem zu lösen. Also zum Beispiel die hasserfüllte Ablehnung eines anderen Menschen. Je häufiger man das macht, umso schneller werden die dabei aktivierten Netzwerke im Hirn stabilisiert. Deshalb gibt es Menschen, die fast wie ein Automat auf eine Bedrohungssituation mit Hass reagieren.

Gibt es im Hirn auch chemische Reaktionen, damit aus Angst Hass wird?

Nein. Das Hirn ist ein Beziehungsorgan. Es werden Netzwerk-Verbindungen hergestellt, und diese Verknüpfungen sind verantwortlich für erfolgende Reaktionen. Welche Art von Verknüpfungen hergestellt werden, hängt davon ab, mit welchen Strategien ich bisher erfolgreich gewesen bin. Vielleicht kann man sich das so vorstellen: Eine Stadt ist auch ein großes Beziehungsorgan, ganz ähnlich wie das Hirn. Wenn in einer Stadt ein Einkaufszentrum gebaut wird, dann entstehen neue Wege, es werden Zufahrtswege, Straßen und U-Bahnen gebaut. Wenn ein Mensch die Erfahrung macht, dass ihm hasserfüllte Äußerungen weiterhelfen, dann ent-stehen in seinem Hirn eben auch solche Verbindungsstraßen, die mit jeder weiteren hasserfüllten Aussage immer mehr verfestigt werden. Dabei spielen auch chemische Prozesse eine Rolle, aber als Vermittler, nicht als Verursacher.

In dem Fall sind es also keine Botenstoffe, sondern tatsächlich Verbindungen, die immer stärker verknüpft werden?

Ja, das ist die neue Botschaft aus der Hirnforschung. Es geht nicht um Botenstoffe, sondern um Verknüpfungen, die hergestellt werden in Abhängigkeit von den Erfahrungen, die eine Person gemacht hat. Ungünstige Erfahrungen führen zu ungünstigen Verschaltungen im Gehirn. Botenstoffe sind gewissermaßen die Worte und die Sprache, mit der das vermittelt wird.

Zu den aktuell sichtbarsten Äußerungen von Hass gehören Postings in sozialen Netzwerken, wo man ja im Prinzip ungestraft schreiben darf, was man möchte: Bedeutet es, dass es diesen Hasspostern danach besser geht?

Der Hintergrund ist immer der gleiche: Man hat Angst, weil man sich bedroht fühlt. Wenn man diese Angst auf diese Art und Weise abarbeiten kann, dann geht es einem besser, und jene Netzwerke im Hirn, die man benutzt hat, um diese Angst abzuarbeiten, werden immer fester gebahnt. In einem Chatroom von lauter Gleichgesinnten geht das besonders gut. Geprägt durch die positive Erfahrung der Erleichterung, die sie spüren, wenn sie wieder einmal eine Hasstirade von sich gegeben haben, werden diese Menschen in Zukunft immer wieder zu dieser Strategie greifen.

Aber warum ist gerade das Internet so prädestiniert, um seinen Hass abzusondern?

Im direkten Austausch mit Menschen ist es unwahrscheinlicher, dass man mit solchen Hassausbrüchen durchkommt und sich anschließend erleichtert fühlt. Aber im Netz kann die andere Person ja nichts entgegnen. Beziehungsweise: Wenn sie antwortet, dann muss man das nicht ernst nehmen, denn es ist nur etwas Geschriebenes. Was ich aber an dieser Stelle noch -einmal betonen sollte: Hass ist eine Strategie zur Bewältigung von Angst und kein Ausdruck von Stärke, sondern von Hilflosigkeit.

In letzter Zeit sind Amokläufer immer stärker in den Fokus medialer Aufmerksamkeit gerückt. Weiß man, was einen Menschen dazu bringt, aus einem Hassgefühl heraus zu einer Tat zu schreiten?

Das ist individuell jedes Mal genau anzuschauen. Generell zeigt sich, dass es bei Amokläufern im Vorfeld meist zu schweren persönlichen Kränkungen gekommen ist. Diese Personen fühlen sich ausgegrenzt, gemobbt, nicht anerkannt, zurückgesetzt, manchmal sind sie auch misshandelt worden. Und sie haben zu wenige komplexere Möglichkeiten erworben, um darauf angemessen zu reagieren. Deshalb findet so eine Tat in ihren Denkraum Eingang: Sie fangen an, sich mit der Möglichkeit zu befassen, „die alle“ umzubringen. Und je intensiver sie sich so eine Tat voller Genugtuung vorstellen, umso mehr werden die Vernetzungen, die zur Ausführung der Tat führen, immer weiter gestärkt. Das kann dazu führen, dass einzelne Personen, die sich ganz besonders verletzt fühlen und die nicht oder nur sehr schlecht in die Gesellschaft integriert sind, auf die Idee kommen, dieses riesige Problem, das sie haben, dann auch auf diese Weise zu lösen. Der Gedanke, dass sie sich rächen könnten und sie so ihre Kohärenz wiederfinden, wird durch die vielen Gewaltvideos verstärkt, die man nicht zuletzt im Internet sehen kann.

Aber viele Menschen haben mit ähnlichen Problemen zu kämpfen und nur die wenigsten laufen Amok. Gibt es so eine Art Sicherheitsbarriere im Hirn, die solche Gedanken oder die Umsetzung des Gedankens nicht zulässt?

Das Einzige, was man sagen kann: Es ist nicht angeboren, dass man so reagiert. Die Bereitschaft und der Schritt zur Tat wird erworben – als eine spezifische Strategie, mit Verletzungen umzugehen. Ein wesentlicher Grund, dass Menschen auf so eine Idee kommen, ist ihre nur unzureichende soziale Einbindung. Man könnte vereinfacht sagen: Sie sind nie wirklich gesehen und wertgeschätzt worden.

Gibt es heute mehr Hass als früher oder kommt es uns nur so vor, weil wir nicht zuletzt in sozialen Netzwerken immer wieder damit konfrontiert werden?

Wenn Sie einen Statistiker fragen, wird er sagen: Es gab so etwas schon immer und heute wird nur die Aufmerksamkeit stärker auf das Thema gelenkt. Ich als Hirnforscher kann mir aber sehr gut vorstellen, dass es gesellschaftliche Bedingungen gibt, unter denen solche Reaktionen schneller ausgelöst werden.

Welche wären das?

Wo die Gesellschaft sehr lasziv wird, wo „Anything goes“ als Grundthese des Lebensvollzuges proklamiert wird, fängt die Sache an, problematisch zu werden. Die soziale Einbindung des Einzelnen wird dann immer schwieriger. In dem Maße, wie in einer Gesellschaft soziale Systeme immer stärker zerfallen und immer mehr Menschen nur noch mit sich selbst beschäftigt sind, gibt es weniger Erfahrung im direkten Austausch. Man erfährt seltener am eigenen Leib, was diese Art von hasserfüllten Verhaltensweisen im anderen auslöst. Je anonymer der einzelne Mensch in einer Gesellschaft wird, umso leichter fällt es ihm, andere wie Objekte zu behandeln. In totalitären Systemen, in denen -großer Druck von außen herrscht und sehr früh in asoziale Verhaltensweisen eingegriffen wird, gibt es weniger Amokläufer und öffentlich zur Schau gestellte Hasstiraden.

Ein totalitäres System wäre die Lösung?

Vordergründig sieht es so aus, als ob man weiterkäme, indem man die Zügel straffer anzieht und schon geringfügigere Verhaltensweisen, die auf hass- erfüllte Reaktionen hindeuten, früher, schneller und härter sanktioniert. Das wäre die banale, altmodische Strategie, die auch jetzt wieder von entsprechenden Gruppen eingefordert wird. Auf diese Art und Weise wird das Problem aber nur unterdrückt und nicht gelöst.

Was müsste dann passieren?

Es müsste sich die Art und Weise ändern, wie wir miteinander leben, lernen und arbeiten. Ein wichtiger Erfahrungsraum, in dem das bestehende Gesellschaftsmuster im Augenblick immer wieder reproduziert wird, ist – befürchte ich – die Schule. Dort erleben die Kinder in aller Deutlichkeit, dass sie wie Objekte behandelt werden, dass sie zu Objekten von Erwartungen, von Zielsetzungen und Beurteilungen, von Benotungen und Lebensentscheidungen gemacht werden. Stattdessen bräuchten wir Bildungssysteme, in denen es nicht primär darum geht, aus den vielen die wenigen herauszufiltern, die diese Prozedur erfolgreich überstehen. Wir bräuchten Bildungssysteme, in denen möglichst viele heranwachsende Menschen erleben können, wie schön es ist, mit anderen gemeinsam Probleme zu lösen und Herausforderungen zu meistern.

Was die Welt momentan wohl am meisten bräuchte, wäre ein bisschen Ruhe.

Es scheint so zu sein, dass niemand versteht, was in dieser verrückten Welt im Moment abläuft. Deshalb wird den Propagandisten, die möglichst -einfache Lösungen anbieten, Tür und Tor geöffnet. Es ist aber wichtig, sich daran zu erinnern, dass das kein spezifisch österreichisches oder deutsches Problem ist. Wir sind in ein globales Schlamassel hineingeraten, an dem wir ganz offenbar auch noch selbst schuld sind. Das wir durch unsere Art des Umgangs mit anderen Menschen und der Natur erst erzeugt haben. Deshalb gibt es auch nur diese eine Lösung: Wir müssen lernen, miteinander statt gegeneinander zu leben.


Am 14. November hält Prof. Dr. Hüther in der Kulturfabrik Hainburg einen Vortrag zum Thema „Kommunale Intelligenz – Potenzialentfaltung in Gemeinden“. Alle Infos: lernwelt.at

Gerald Hüther ist Sachbuchautor und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung, die neben dem Hauptsitz in Göttingen auch über eine regionale Koordinationsstelle in Wien verfügt. Er befasst sich im Rahmen verschiedener Initiativen und Projekte mit neurobiologischer Präventionsforschung.

akademiefuerpotentialentfaltung.org
gerald-huether.de

Interview: Hannes Kropik
Quelle: http://wiener-online.at/2016/09/21/interview-mit-gerald-huether/

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