Was heißt Vergebung?
Kaum ein religiös-philosophisches Konzept kommt ohne Vergebung aus.
Sie gilt schon fast als Königsdiziplin menschlichen Seins.
Generös sein, drüber hinwegblicken, Schwamm drüber, vergessen … die Eso-Szene spricht von Loslassen, Sein lassen, ja zu einer Situation, einem Ereignis sagen, aus der Wertung gehen, aus der Be- und Verurteilung gehen, auf die höhere Ebene des Seelenplanes gehen.
Doch ausser hehren Worte findet man wenig Konkretes dazu. Wunderbar gesagt – doch – konkret heißt das was nun?
Ich bin gerne klar und einfach, weil ich meine, nur das hat Bestand.
Wenn man so mitten im Getümmel des Geschehens ist, ist es oft schwer, einfach nur ein schlichtes „JA“ zu dem zu sagen, was geschehen ist, weil der Verstand und das Ego dagegenschießen, weil der Schmerz und die Enttäuschung sehr tief sitzen, weil einen die Erinnerung nicht loslässt und man sie nicht loslassen kann.
Dies ist zutiefst menschlich. Auch das will einmal geschrieben sein. Auch dazu ist ein „JA“ zu sagen.
Denn – das sich verbeißende Nein, das Ablehnen, das Verdrängen ist da offenbar viel einfacher. Das sind wir gewohnt. Das kommt uns leicht über die Lippen. Es grenzt ab und hält nieder.
Das Ego kann dabei das größte Hindernis sein, um weiterzugehen. Doch das Ego ist auch Ausdruck von tiefsitzender Angst. Angst in all seinen Schattierungen ist immer eine sehr dichte Energie. So viel zur Einordnung.
Das befreiende Ja, das aus dem Herzen, dem tiefsten Inneren kommende Ja als Ausdruck von Akzeptanz wie es ist, ist da schon viel schwieriger.
Das Ego ist nicht unterzukriegen, plustert sich wieder und wieder auf und schreit, weint und poltert. Der andere hätte doch. Die andere hätte nicht. Alles bekannt. Doch es hilft nicht weiter am eigenen Weg. Auch das langfristige Suhlen im Schmerz, der anfänglich völlig verständlich ist und dasein darf, bringt auch nicht weiter. Man bleibt in diesem Amalgam aus niedrig schwingenden Emotionen hängen und ersäuft in der eigenen, hausgemachten Soße.
Ich schreibe das absichtlich besonders drastisch, um deutlich zu machen, was in unserer oft sehr unversöhnlichen Gesellschaft, in der Vergebung als hehres, esologisches Tralala und als große Gefühlsgesten der Mildtätigkeit abgetan werden, so vor sich geht. Bei Feiern wird vergeben. Im Alltag wird wieder fest aufs Alte hingeprügelt.
Wir sind WeltmeisterInnen im nach Außen gehen. Wir suchen noch immer die Antwort auf das was geschehen ist, im Außen.
Damit tun wir jedoch den tatsächlich befreienden Schritt, der Voraussetzung für Vergebung ist, ausdrücklich NICHT. Wir nehmen die Situation, die sowieso schon IST, nicht an. Es geht nicht um ein Gutheißen.
Es geht um die Akzeptanz dessen, was bereits passiert ist. Doch hier hakt es gewaltig. Damit hat diese Situation keine Chance, sich zu wandeln. Auch unsere innere Haltung kann sich nicht wandeln. Wir sind nicht in der Lage, den Blick aus einer höheren Ebene einzunehmen, Zusammenhänge und Hintergründe für die Lage selbst zu erkennen. Von leicht und von Blitzestempo war übrigens hier nie die Rede. Nur der guten Ordnung halber.
Erstaunlich – das kleine Wort „JA“ hat eine derart offenbarende, katalytische Wirkung, die schon fast frappant ist. Doch dieses kleine Wort ist der einzige Weg, um aus der Nummer auszusteigen. Ansonsten ist das Erfahrene, das Erlebte wie die Kugel an der Kette am Fußgelenk. Ein freies Weitergehen ist nicht möglich. Neues ist nur schwer möglich, weil der Platz besetzt ist.
Das „JA“ führt zur Annahme einer Situation, ohne sie ausdrücklich gutzuheißen. Es ist Grundlage, um sich selbst zu vergeben, dass man – wo auch immer – hineingerutscht ist, es zugelassen hat, dass etwas geschehen konnte.
Hätte frau/man es besser gewusst und gekonnt, dann wäre es anders geschehen. Alleine diese Grundannahme ist ganz wesentlich, denn sie erleichtert das Ja und die vielzitierte Selbstvergebung.
All dies sind innere Prozesse, die oft einiges an Zeit in Anspruch nehmen und Kraft kosten. Aus eigener Anschauung kann ich schreiben – wenn es sich um etwas richtig Großes handelt, dann kann das schon mal gut und gerne Jahre in brauchen, bis man neutral-akzeptierend damit umgehen kann. Vom Erkennen des Geschenks dahinter will ich noch gar nicht schreiben.
Wesentlich ist für mich, dass die Zusammenhänge im Vergebungsprozess und seine Mechanismen erkannt werden. Dann erst kann man sich an die Vergebung selbst heranwagen.
Warum Vergebung?
Oft wird mir in meinen Beratungen die Frage gestellt – ja, warum soll ich denn überhaupt vergeben? Der Andere hat mir derart wehgetan. Das sei unverzeihlich. Man kann das Geschehene nicht mehr ungeschehen machen. Der anders soll büßen. Er soll den Schmerz fühlen, den ich gefühlt habe.
Er soll den gesamten Zorn und die Wut abgekommen. Mein Herz ist zu. Punkt um. … Die Fantasie kennt keine Grenzen, wie auch die Gründe, die es zu vergeben gilt, äußerst vielfältig sind. Und wenn das Herz für einen geschlossen ist, ist es für alle geschlossen. Das wird meistens vergessen.
Sich von etwas zu distanzieren, heißt nicht, dass man es für gut befindet.
Zudem ist alles in einen sog. Erfahrungs- und Erwartungshorizont der/des Einzelnen eingebunden.
D.h. die Vergangenheit wird zum Maßstab für die Zukunft gewählt. Dies ist einer der Kardinalfehler im Dasein, denn es gibt nur das Hier und Jetzt. Der Rest ist mittlerweile als Fiktion und Illusion nahezu amtlich anerkannt – auch ohne Gesetz und Umsetzungsverordnung. Das Leben spricht zu uns. Das ist amtlich genug.
Mit dieser Bestemmhaltung – unverzeihlich, der andere … und so fort… ist die große Hürde in einem aufgebaut, die jeglichen Schritt weiter am eigenen Weg behindert, ja – sogar manches Mal verhindert.
Die Last bleibt, wieder durch Emotionen gefüttert und gefüttert, bis sie dick und unbeweglich geworden ist. Damit ist sie die Ausrede, überhaupt etwas tun zu können. …
Aus Erfahrung mit mir selbst und in meinen Beratungen habe ich folgenden Schluss gezogen:
Wer vergibt, fängt bei sich selbst an, wird selbst mehr und mehr heil und damit ganz. Dann ist die Chance, innerlich für Neues frei zu werden, beträchtlich gewachsen.
Vergebung ist sehr oft die Voraussetzung, um den eigenen Seelenplan, der uns sehr oft kryptisch verhüllt ist, zu erkennen und auch anzuerkennen. Auch wenn es tief schmerzt – es ist richtig. So paradox das klingen mag.
Wir können eine Frage nie auf der Ebene beantworten, wo sie gestellt wurde – nur auf der übergeordneten Ebene. Vergebung ist also die Voraussetzung zur Heilung, zur Ganzwerdung, um am eigenen Kern anzukommen und wahrhaftig sein zu können.
Verschwenden Sie gerne viel Energie in die Betrachtung einer Situation aus der höheren Ebene.
Doch hören Sie auf, Energien in langfristige Wut, in einen tiefliegenden Zorn und einen umfassenden Hass zu investieren.
Abgesehen von den grauen Haaren, herunterhängenden Mundwinkeln und Zornfalten – kosmetisch-optisch nicht unbedingt sehr attraktiv, wenn sie vom angeführten Verhalten kommen, macht all das Ihr Herz eng. Doch genau dieses Herz ist die Türe in der aktuellen Zeit, um weiterzukommen am Weg, den die jeweilige Seele vorgesehen hat.
Wie Vergebung?
Nachdem ich mich eingangs über die wenigen konkreten Anweisungen zu Vergebung beschwert habe, nun mal Buddha bei die Fische. Sie lächeln … das ist schon mal sehr gut. Lächeln entspannt. Entspannung ist immer wesentlich für eine konkrete Vergebung.
Aus meiner Erfahrung ist eine Neubegegnung mit der zu vergebenden Lage nicht unbedingt erforderlich. Man muss sich nicht nochmals durch etwas durchquälen und alle Emotionen nochmal aufrühren. Es gibt andere Wege und Möglichkeiten, die genauso effizient in der Lösung sind. Es braucht dazu keine langwierigen Therapien – ja, die kann man natürlich auch machen. Ich will davon niemanden abhalten.
In mehr als 20 Jahren der systemischen Aufstellungen konnte ich immer wieder feststellen, dass es primär um starke energetische Verstrickungen und Spiegelungen ging, die es zu lösen galt und gilt. Aus dem Erlebten wurde eine innere Geschichte, die man sich wieder und wieder erzählt, bis man sie für kristallisierte Wahrheit hält.
Ich habe in diesen Jahren oft sehr schmerzhafte Situationen aufgestellt – und es war immer und ausschließlich der Weg aus dem Innen heraus – aus dem Herzen, der heilend war – ich betone – gleichgültig wie schmerzhaft.
Ob es sich um Kinder handelte, deren Eltern früh gingen; ob es sich im Kriegsbegebenheiten handelte, um geschäftliche Konflikte, wo Menschen ungerechtfertigt in die Öffentlichkeit gezerrt und vollkommen niedergemacht wurden (in Zeiten sozialer Medien fast schon Tagesgeschäft), ob es um Flucht und Vertreibung und Heimat- und Wurzellosigkeit ging …
es ging immer um die Annahme und um das bereite Ja aus dem eigenen Innen heraus.
Dies bedeutet natürlich NICHT, dass man ein Erlebnis, eine Erfahrung gut heißt. Nein – ausdrücklich – dies bedeutet es nicht. Ja aus dem Herzen und der Tiefe der eigenen Seele zu etwas zu sagen, bedeutet – es darf da sein. Nicht mehr, nicht weniger. Dieser Gedanke ist genau zu lesen – frei von bereits wertenden Interpretationen.
Was nicht nachhaltig hilft, ist die, wie ich es nenne – Kopf-Vergebung. Sie kann bestenfalls der Anfang, jedoch nie das Ergebnis sein. Es geht ja oft um tiefen Schmerz, um Scham, um Opfersein, um große psychische und physische Verletzungen – all das darf da sein und angesehen werden. Oft ist die Angst, schlicht hinzusehen, hinzufühlen, weil derart viele weitere Angstmuster das eigentliche Ereignis bereits überlagern, das sich Ross und Reiter nicht mehr unterscheiden lassen, viel größer als alles andere.
Meistens ist mitfühlende Begleitung hilfreich. Auch hier gilt es, diese angebotene Hilfe anzunehmen, durch die Ängste, die Scham durchzugehen. … Es gibt unzählige Möglichkeiten – auch für Sie, wenn Sie sich durch diese Gedanken gesprochen fühlen. Die systemische Aufstellung ist natürlich nur eine von zahlreichen Möglichkeiten. Colin Tipping bietet z.B. auch sehr stimmige Möglichkeiten mit seiner Methode der radikalen Vergebung. Es gibt jedoch noch viel mehr im Angebot. Recherchieren Sie und die für Sie passende Methode wird Sie finden, wenn Sie tatsächlich bereit dafür sind.
Man darf sich nichts vormachen. Es ist nicht einfach, diesen Vergebungsprozess zu durchschreiten, vor allem wenn man die Schuld bei sich sucht … doch all das ist wesentlich, um eine Lage auseinanderzudröseln, einzuordnen, zuzuordnen und sichtbar und verständlich zu machen. Aus dem Erkennen wird ein innerer Prozess möglich, der oft mit helfender Anleitung zu erstaunlichen raschen und überraschenden Ergebnissen führt.
In den unzähligen Beratungsgesprächen und Aufstellungen seit 1997 kann ich sagen,
dass die innere Bereitschaft ganz grundsätzlich zu vergeben – sich, dem Ereignis, den Beteiligten – der Initialschritt ist.
Dann kann es mit kompetenter Begleitung rasch und nachhaltig gehen, dass die Lösung, die innere Vergebung sich wie eine aufblühende Blume in einem zeigt.
Und dann – was kommt danach?
Diese Frage wird oft nicht gestellt – ich finde das schade. Alles endlich erledigt, endlich abgeschlossen. Von einer Last befreit. Der Stein ist weg vom Herzen. Nur kein Blick mehr hin. Wer weiß, was das auslösen würde? …
Vielmehr dominiert die Erleichterung, „es“ endlich geschafft zu haben. Ein oft jahrelang besetzter innerer Raum wird frei. Das muss man sich auch mal bewusst machen.
Danach ist vorerst einmal Leere.
Davor erschrecken viele. Ja – was kommt denn danach? Ich kann nicht mehr jammern, schimpfen und im Außen mit etwas beschäftigt sein?! So als ob das zu Vergebende die eigene Existenzgrundlage wäre.
Es ist oft paradox, wie der Mensch sich so seine Fallstricke gestaltet. … Nimm einem Menschen sein Leiden in unserer Leidensgesellschaft weg – woraus zieht er seine Existenzberechtigung … so ganz ohne Leiden und Projektionsflächen?
Die Leere ist aus meiner Sicht ein kreativer Raum, aus dem Neues entstehen kann – ein Raum des Potenzials.
Diesen muss man nicht hektisch mit etwas befüllen, damit er voll ist. Darum geht es nicht. Es geht um ein inneres Schauen, um die innere Ruhe, um Stille.
Es geht auch darum, sich von allem zu erholen.
Wenn die natürliche Kraft wieder Platz greift, dann zeigen sich unzählige Möglichkeiten, womit man diesen neu freigewordenen Raum gestalten kann. Vielleicht zeigt sich erst jetzt der eigene Weg. Vielleicht macht die freie Sicht darauf bislang Nichterkanntes sichtbar. Doch eines ist klar – dann erst wird ein Weitergehen am eigenen Weg möglich. Dann erst wird ein Finden des eigenen Weges möglich. Innere Freiheit, Herzensfreiheit wird möglich.
Dafür lohnt sich Vergebung allemal.
Zum Thema Bewusstseinsrevolution finden Sie eine Serie ab Juni 2018.
Die Beiträge finden Sie >>> HIER
Zu Andrea Riemer: https://www.andrea-riemer.de/
Mehr über das aktuelle Buch „Botschaften vom Leben“ – mit Leseprobe finden Sie >>> HIER
05.10.2018
Andrea Riemer
25 Jahre internationale Karriere als Wissenschafterin und Beraterin für Sicherheitspolitik und Strategie mit Studien der Wirtschaftswissenschaften und der Militärwissenschaften (Doppelpromotion, Habilitation in Militärwissenschaften, außerordentliche Honorarprofessur) – ab 2012 Etablierung als eine der erfahrensten Autorinnen und Beraterinnen zu existentiellen Fragen des Lebens in der Quantenphilosophie.
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Zum Abschluss ein tröstlicher Gedanke – als Mutmacher am Weg.
„Sie wusste, das Leben war immer auf ihrer Seite, manches Mal anders als sie es sich wünschte, doch es war immer da. Das Leben liebte Marie und es war geduldig mit ihr. Und doch forderte es sie immer wieder auf, Altes fühlbar und sichtbar abzuschließen. Dann erst war Platz für Neues.“
Andrea Riemer
Text aus ihrem neuen Buch:
Andrea Riemer, Botschaften vom Leben, dielus edition, Leipzig 2018 (mehr dazu samt Leseprobe unter
www.andrea-riemer.de/das-neue-buch).
Dazu kann man in einer mehrteiligen, kostenpflichtigen Webinarreihe auch nachhören unter www.sofengo.de/academy/andrea.riemer
Andrea Riemer, Botschaften vom Leben, dielus edition, Leipzig 2018 (mehr dazu samt Leseprobe unter
www.andrea-riemer.de/das-neue-buch).
Dazu kann man in einer mehrteiligen, kostenpflichtigen Webinarreihe auch nachhören unter www.sofengo.de/academy/andrea.riemer
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