2018-12-26

Das Gewissen der Republik: Eugen Drewermanns ganz persönliches Fazit 2018


Der Psychoanalytiker und Autor Eugen Drewermann gilt als das „Gewissen der Republik“. Für Sputnik blickt er exklusiv auf das politische Jahr 2018 zurück. Mit Sorge beurteilt er die Kriegsstrategie des Westens und die sozialen Entwicklungen in Deutschland. Auch den „Mainstream-Medien“ gibt der 78-Jährige eine Mitschuld an den düsteren Aussichten.

Herr Drewermann, das Jahr 2018 neigt sich dem Ende zu. Es war ein ereignisreiches Jahr. Wenn wir uns die weltpolitische Lage heute anschauen, ziehen Sie eher ein positives oder eher negatives Fazit von 2018?

Es sind zwei Komponenten, die mich nicht daran glauben lassen, wir hätten im Jahr 2018 wesentliche Fortschritte erzielt. Das eine ist die Feststellung, dass das christliche Abendland – wie es sich gern nennt – also die Europäische Union sich nur darauf einigt, wie man Migranten von den Grenzen Südeuropas fernhalten kann. 20 Millionen Flüchtlinge in Nordafrika stehen vor dem Nichts. Die Uno bettelt um rund 4 Milliarden Dollar, um sie am Leben zu erhalten. Die gibt es aber nicht. Stattdessen geben wir weiter Geld für Rüstung aus. Mit dem Ziel, das von der Nato und den USA festgesetzte Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts nur für Militär auszugeben.

„Eine Stabilisierung von Fehlern“

Dieses Ungleichgewicht, Konflikte militärisch hervorzurufen, weiter militärisch zu verlängern und gleichzeitig die Folgen dieser Praktik nicht anzurühren, das ist alles andere als eine Entwicklung zum Besseren. Im Gegenteil: Es ist eine Stabilisierung von Fehlern, die vor sehr langer Zeit festgelegt wurden. Und der Schritt von Frau Merkel 2015 – „Wir schaffen das“ – ist ins Gegenteil kontrakariert worden: Wir schaffen es ab.

Welche Rolle spielt Deutschland im weltpolitischen Gefüge? Und damit verbunden natürlich auch die deutsche Bundesregierung?

Wir hätten viel zu tun, die wahren Ursachen der Kriege zu bekämpfen. Aber dann müssten wir die Politik ändern, die seit 1989 unter amerikanischer Führung aus der Nato-Osterweiterung besteht. Wir müssten die Atombomben aus dem Militärstützpunkt im deutschen Büchel entfernen, die die Amerikaner dort stationieren. Wir müssten die US-Enklave in Ramstein mit 36.000 amerikanischen Militärs als Vermittlungsstelle für das globale Drohnen-Morden beseitigen. Das wären alles Zeichen in Richtung einer dem Frieden offeneren Politik.

„Warnungen für das Jahr 2019“

Stattdessen versuchen wir immer noch, die Bundeswehr in der Mitte der Gesellschaft ankommen zu lassen. Es wird erklärt, dass Soldat zu sein ein normaler Beruf sei, wie jeder andere zivile Beruf auch – wie Metzger, Schuster oder Schneider. Wir übergehen all die Konflikte, die mit der Aufrüstung verbunden sind, ignorieren sie, übertönen sie in den Medien. Umso intensiver versuche ich gerade, die Bilanz von 2018 in Warnungen für das Jahr 2019 zu verwandeln.

Auch der Konflikt zwischen den USA und Russland hat sich zugespitzt. Die USA drohen auch, aus dem Abrüstungsvertrag INF auszusteigen. Schauen Sie mit Sorgen auf Washington und US-Präsident Trump?

Weit mehr als auf Russlands Präsidenten Wladimir Putin, der zum Schuldigen gemacht wird. Er hat die Krim besetzt, das stimmt, aber ohne einen einzigen Verletzten oder Toten. Das Ganze war eine mittelbare Reaktion darauf, dass die Nato das gesamte Gebiet im Balkan besetzt hat – mit mindestens 200.000 Toten in den Kriegen, die daraus hervorgegangen sind. Mit massiven Bombardements in Belgrad, mit den ungelösten Konflikten im Kosovo und vielem mehr.

„Eine Billion nur für Rüstung“

Die Besetzung der Krim war auch eine Reaktion auf die Nato-Vormarschstrategie: Das Baltikum ist mittlerweile von amerikanischen Raketen besetzt. Die Südgrenze Russlands, Afghanistan, Usbekistan, Kirgistan, all das ist mehr oder minder von der Nato kontrolliert. So kann es nicht weitergehen, wenn Frieden das Ziel sein soll. Natürlich muss Russland darauf reagieren, und das geschieht. Aber vergleichen Sie nur einmal die Kriegsbereitschaft seitens der USA mit der Kriegsbereitschaft aller anderen Länder der Welt: Über 700 Milliarden Dollar geben die Amerikaner nur für Rüstung aus, die restliche Nato über 300 Milliarden. Das sind mehr als eine Billion nur für Rüstung. Dem gegenüber hat Russland ein Budget von ungefähr 80 Milliarden. Gemeinsam mit China geben beide Staaten nicht ein Drittel von dem für Rüstung aus, was Amerika in sein Militär investiert. Wer hat da Grund, sich vor wem zu fürchten?

„Das wird von den USA gefürchtet“

Dem müssten wir in Deutschland widersprechen. Wir hatten zu Russland eigentlich sehr gute Verbindungen. Der damalige Kanzler Gerhard Schröder hatte seinerzeit sogar eine sehr Putin-freundliche Politik versucht. Die Erdöl- und Gaspipeline nach Russland ist eine der Konstanten, die damals für eine Permanenz der freundschaftlichen Beziehung geschaffen werden sollten. Das alles wird natürlich von den USA gefürchtet. Der gesamte politische US-Sachverstand fürchtet, dass es zu einer Versöhnung Europas mit Russland kommen könnte. Die Folge wäre nämlich ein Wirtschafsraum, der von Wladiwostok bis Lissabon reichen könnte. Das wäre das definitive Ende der Hegemonial-Träumereien, die Amerika immer noch in die Beherrschung des Globus gesetzt hat. Deutschland sollte da eine klare Stellung beziehen. Dass Deutschland das aber nicht tut, ist unterhalb des Niveaus seiner Moral und auch seiner politischen Möglichkeiten.

Einige Beobachter sprechen bereits von einem neuen Kalten Krieg. Herr Drewermann, ist es kurz vor zwölf oder schon kurz nach zwölf?

Es war im Jahr 2007, als Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz zum ersten Mal davon gesprochen hat, dass wir wieder auf einen Kalten Krieg zusteuern. In den deutschen Mainstream-Medien wurde das übrigens so wiedergegeben, als wollte Putin den Kalten Krieg selbst wiederbeleben, um Moskaus altes Herrschaftsgebiet wiederherzustellen. Aber das Umgekehrte war der Fall: Putin sagte, wie 1989 in den Gesprächen zwischen Michail Gorbatschow und dem US-Außenminister James Baker die große Chance auf eine Entmilitarisierung Gesamteuropas vom Ural bis zum Atlantik vertan wurde. Präsident Bush Senior wollte seinerzeit von vornherein die Nato-Ostausdehnung. Das heißt, er wollte die Schwächung des zusammenbrechenden Sowjet-Imperiums benutzen, um alle zurückgelassenen Länder in amerikanische Obhut zu übernehmen.

„Nicht Russland wollte den Krieg“

Dagegen musste irgendwann, nachdem Boris Jelzin nicht mehr im Amt war, eine neue Reaktion her. Und seitdem ist der damals von den USA gewonnen geglaubte Kalte Krieg nun ganz deutlich umgeschlagen in eine Fortsetzung des Kalten Krieges. Da stecken wir mitten drin, da gehen wir mittlerweile ins dritte Jahrzehnt. Und wir müssen feststellen, dass die USA den Frieden nie gewollt haben. Das Gerede davon, wir müssten unsere Freiheit schützen, unsere Sicherheit bewahren, war nur das Gebläse für die geplante Ausweitung des eigenen Machtanspruchs. Nicht Russland wollte den Krieg, sondern der Westen wollte die Macht.

Nun steht hier im Westen 2019 die Europawahl an. In immer mehr europäischen Parlamenten gewinnen rechte Strömungen Einfluss, in Deutschland die AfD. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

Es ist eine Merkwürdigkeit: Die Aufrüstungsprobleme, deren Folgen, die Wirkungen unserer Kriege – sieben islamische Staaten haben die USA seit 2001 ausgebombt – dass alles wird kaum wahlentscheidend in das Bewusstsein der Bevölkerung eindringen. Da sind andere, vor allem soziale Themen vorrangig, die mittelbar auch mit der militarisierten Außenpolitik zu tun haben. Es geht darum, dass der Kapitalismus nach außen offensiv, neokolonial, militant, als Okkupant auftritt. Im Inneren werden aber die sozialen Ungleichgewichte vor sich hergetrieben. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Die negativen Folgen unseres Wirtschaftens werden sozialisiert, die positiven Prämien für das Wirtschaften aber werden privatisiert.

„Sie reden nur noch mit sich selber“

Das alles ist bekannt, wird aber in der Politik nicht gerade ernst genommen. Und es scheint dann so, dass sich die Regierenden von der Meinung des Volkes immer weiter emanzipierten. Als regierten sie sich nur noch selber, als redeten sie nur noch mit sich selber. Als hätten sie nur noch Abstimmungsergebnisse im Kopf, aber keine Ziele, die dem Volke nützen würden. Das alles schafft – regional unterschiedlich gewichtet – entsprechende Bewegungen des Protestes, der Ablehnung.

Schauen wir uns den Aufstieg der AfD vor allem in den sogenannten neuen Bundesländern an: Er ist mit Sicherheit auch eine Reaktion darauf, dass man sich von dem Kapitalismus – von dem man sich nach 1989 so viel erhofft hatte – betrogen fühlte. Er hat zumindest einem Fünftel der Bevölkerung nicht das gebracht, was man versprochen hatte. Ein Fünftel der deutschen Bevölkerung lebt in Armut, fühlt sich abgehängt. Die können arbeiten, so viel sie wollen, aber von den Erträgen nicht leben. Sie sind an den Rand geschoben, haben die größten Schwierigkeiten bei der Bezahlung ihrer Mieten. Das alles kann auf lange Sicht nicht gut gehen.

„Die Wirtschaft ist auf Krieg angewiesen“

Machen wir eine Milchmädchenrechnung auf: Setzten wir die 60 Milliarden Euro, die wir jedes Jahr für Rüstungsausgaben verplempern wollen, mal für vernünftige Ziele ein. Dann hätten wir im Inneren bereits kein Problem mehr, genügend Lehrer einzustellen, genügend Pflegepersonal zu haben, genügend Ärzte zu haben, für die Altenversorgung gut aufgestellt zu sein. Wir hätten auch keine Not mit den Kitas, die man den arbeitnehmenden Frauen versprochen hat. Wir hätten plötzlich eine Fülle von sozial querstehenden Problemen endlich als lösbar vor Augen. Aber das alles soll nicht sein.

Und mir liegt daran, auf die Zusammenhänge hinzuweisen: Wir können nicht in Blindheit den Militarismus in freier Fahrt begleiten, als beträfe er uns nicht, als gäbe er uns Sicherheit vor dem sogenannten Terrorismus, und dann an anderer Stelle beklagen, dass unsere wirtschaftlichen Interessen nicht gewürdigt würden. Die Dinge hängen andersherum zusammen: Die Wirtschaft, die wir haben, ist angewiesen auf Krieg, Expansion, Gewalt und Ausbeutung. Und umgekehrt haben wir viele Folgen, die wir international auch in Form des Terrorismus wiedersehen. Auch den werden wir nicht bekämpfen, indem wir immer mehr Menschen effizient zu töten belieben. Wir müssten mit den Menschen sprechen. Wir müssten miteinander leben lernen.

Das komplette Interview mit Eugen Drewermann zum Nachhören:


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