2019-04-07

Tun ohne zu tun oder das Ende des „beschäftigt sein“


von Dipl. Psych. Anna Georgiew

Dipl. Psychologin Anna Georgiew erzählt uns von ihrem Aufenthalt im buddhistischen Dzogchenkloster und wie sie es schafft, Meditation als Lebenspraxis zu begreifen. Sie beschreibt einfühlsam warum sich ihr Klosteraufenthalt nachhaltiger auf ihr Innenleben auswirkt als ein normaler Urlaub, in dem man nur dem Alltag entfliehen möchte. Und warum Meditation kein Punkt auf der To-Do Liste sein sollte, da es sich in Wirklichkeit um eine Lebensphilosphie handelt.

„Wie war´s denn in Indien beim Retreat?“ wurde ich ab und zu nach meinem Aufenthalt im buddhistischen Dzogchenkloster gefragt. Eine Antwort auf diese Frage fällt nicht leicht. Es scheint irgendwie die Dimension unseres normalen Sprachgebrauchs zu sprengen. Das übliche Skript ist nicht möglich, so wie nach einem „normalen Urlaub“, in den man fährt, um es sich mal richtig gut gehen zu lassen. Und um dann wieder eine Weile alltagstauglich zu sein. Ich könnte wahrheitsgemäß antworten: „Ich bin wieder bei Trost.“ Oder „Ich weiß wieder, worum es wirklich geht.“ Doch das lässt sich nur schwer verstehen und würde für Irritation sorgen.

Hamsterrad versus Dzogchenpraxis

Ein Erklärungsversuch: Mein Alltag zu Hause in unserer modernen westlichen Welt führt mich oft zu einem unfreiwilligen dauernden Gefühl von „beschäftigt sein“. Anforderungen von anderen, Verpflichtungen des Lebensunterhalts, im besten Fall noch eigene Ideen umsetzen. Und obwohl es viele Tätigkeiten sind, die ich mag und die ich mir selbst ausgesucht habe, beschleicht mich nicht selten das Gefühl, mich überschlagen zu müssen. Mich in einem Hamsterrad zu befinden, das ich nicht zu stoppen vermag. Ein Zustand von: Erst noch dieses oder jenes tun müssen, nie fertig zu werden mit Listen oder Aufgaben, selten wirkliche Ruhe zu finden. Wo mitunter selbst Meditation zu einer Aufgabe wird, die man noch schnell erledigen muss.

Ein Dzogchenretreat ist für mich in etwa so, als ob ich aus dem Film im Kinosaal in den Vorführraum gewechselt hätte und sogar den Weg raus aus dem Kinogebäude finden kann. Im Vorführraum kann ich den Film noch immer sehen und auch mich selbst im Kinosaal beobachten, wie ich ganz von der Handlung des Films gefangen bin. Ich schaffe Abstand und kann ihn überhaupt als Film erkennen und meine Reaktionen wahrnehmen. Den Weg aus dem Kino kann ich erahnen, auch wenn es mir schwer fällt den Sog des Films wirklich zu verlassen. Sitzen doch da meine Liebsten – und auch die anderen Zuschauer machen mir vor, wie gut man dem Film folgen kann.

Tue gar nichts – eine Dzogchen Unterweisung

Jetzt die Überraschung: Auch im Kloster ist man von früh bis spät beschäftigt. Und zwar nicht nur mit hochspirituellen Dingen wie Meditation oder Unterweisungen durch den Lama. Sondern auch z.T. mit ganz weltlichen Dingen wie Abwaschen, Meetings oder das Bad putzen. Doch hier gelingt es mir deutlich häufiger, in stabile, innere Ruhe zu kommen, geerdet und ausgerichtet zu sein, weniger Zweifel zu haben. Wie kommt dieser Unterschied zustande?

Die Anweisung im Dzogchen lautet: Tue gar nichts! Bitte nehmen Sie sich einen kurzen Moment Zeit und beobachten Ihren Geist bei dieser Anweisung. Tue gar nichts! Was ist ihre Reaktion? Unverständnis, Langeweile, Verärgerung, Angst, Erheiterung? Und nun lesen Sie diesen Satz noch einmal mit ihrem Herzen (vorher einmal durchatmen): Tue gar nichts! Vielleicht spüren oder erkennen Sie einen sanften Unterschied.

Für die meisten von uns ist es ungewohnt, sich nicht andauernd zu beschäftigen. Wir bemerken schon gar nicht mehr, wie sehr wir uns von unserem ursprünglichen Lebenssinn entfernt haben. Wir möchten uns so gerne verbessern. Produktiver, schöner, schlauer, mitfühlender, gesünder, erfolgreicher sein. Und vieles mehr. Wir meinen, wir müssten uns nur noch mehr anstrengen, mehr arbeiten, mehr kaufen, noch mehr Verpflichtungen erfüllen, damit wir endlich glücklich sind. Oder wir halten uns beschäftigt, um unseren Ängsten zu entfliehen oder sie vermeintlich in Schach zu halten. Diese Lebensweise erzeugt Stress und macht uns krank. Wir selbst berauben uns unserer kostbaren Lebenszeit. Wir halten uns von den Dingen ab, die wirklich Bedeutung haben und Freude in unser Leben bringen könnten.

Nichts tun – Sein

Tue gar nichts! Das bedeutet nicht, dass man nicht mehr sein Geschirr abwäscht, nicht mehr sein Bad putzt oder nicht mehr arbeiten geht. Es bedeutet soviel wie: tue es nicht, weil Du ein Ergebnis erwartest. Tue es nicht, um zu… . Tue es nicht, ohne im Augenblick anwesend zu sein. Es ist eine Anweisung für unseren Geist, dass es nichts zu erreichen, nichts zu entwickeln und auch nichts zu tun gibt. Es gibt keinen Weg zum Glück, zur Zufriedenheit oder zum Frieden. Wir können nur glücklich, zufrieden oder friedlich sein, ohne Grund, ohne Bedingung oder Ergebnis. Dann setzt eine köstliche Ruhe im Herzen ein, die unser Geist selbst niemals entwickeln kann.

Natürlich verfalle ich nach einiger Zeit zu Hause immer wieder darin, „den Film“ ernst zu nehmen und mich damit zu identifizieren. Ich pendle dann zwischen Kinosaal und Vorführraum. Mit den Jahren der Dzogchenpraxis wird jedoch alles immer klarer. Ich erkenne, wann ich „im Film verloren gehe“ und wann ich anhalten kann. Ich erkenne, dass das Leben in jedem Augenblick spirituell ist. Das erfreut mein Herz und gibt meinem Dasein Sinn. Vor allem aber, weil ich nun weiß, dass es einen Weg aus dem Kino gibt. Raus aus dem Film, hinein in den Zuschauerraum. Ich kann dann solange zuschauen, bis es still wird.

Die Weisheit unseres Herzens

Wenn ich Menschen vorschlage, Meditation in ihr Leben zu integrieren, höre ich oft: „Ja das wäre schön, aber dafür habe ich keine Zeit“ oder „Das schaffe ich nicht.“ Unseren aktuellen Zustand wichtig oder ernst zu nehmen fällt uns oftmals schwer. Sind wir doch in unserer Beschäftigungsroutine meist derart gefangen, dass wir keine Irritation zu vertragen glauben.

Erst wenn sich körperliche oder seelische Krankheiten einstellen, sind wir bereit einzulenken, dennoch versuchen wir es weiterhin auf die gewohnte Art und Weise: wir machen Meditation zu einem „Punkt“ in unserer ohnehin schon vollen To-Do-Liste. Oder wir setzen uns als Entwicklungsziel, entspannter zu sein, anstatt unsere Prioritäten wirklich und wahrhaftig zu überprüfen und zu verändern. Oder anstatt unsere Verpflichtungen zu reduzieren und langsamer zu werden. Nur mit der Weisheit unseres Herzens können wir echte Lebensentscheidungen treffen, die uns Raum für dauerhaften Sinn und Freude in unserem Leben geben. So wie es schon immer unser sehnlichster Wunsch war.

Dipl. Psych. Anna Georgiew ist seit 10 Jahren Schülerin von Dzogchen Rinpoche und Mitglied von Shenpen Deutschland e.V., die u.a. die Vortragsreisen für Dzogchen Rinpoche organisieren. Sie arbeitet als Psychotherapeutin in ihrer Praxis in Berlin und gibt Meditationskurse. Die nächste Gelegenheit, Dzogchen Rinpoche in Berlin selbst zu erleben, ist vom 12. bis 15. April 2019.

Vortrag: Warum sind wir pausenlos beschäftigt?
12.04.2019, 19.30 Uhr
Hotel Wyndham Garden Berlin Mitte
Osloer Str. 116 a, 13359 Berlin

Dreitagesseminar: Was bestimmt unser Leben?
13.-15.04.2019

Weitere Informationen unter:
0176 863 404 09
berlin@shenpendeutschland.org
www.shenpendeutschland.org

Seine Eminenz, der 7. Dzogchen Rinpoche, ist einer der höchsten Lamas der tibetisch-buddhistischen Tradition. Er wurde 1964 in Sikkim geboren und als 7. Inkarnation von Pema Rigdzin, dem Linienhalter der Dzogchenlinie, erkannt. Nachdem das Dzogchenkloster in Tibet während der Kulturrevolution zerstört worden war, baute er es in Südindien wieder auf und ist inzwischen zu einem der wichtigsten Institute der Nyingma-Tradition geworden. Hier leben und studieren über 200 Mönche aus Tibet, Nepal und Bhutan. Seine Eminenz wird von seinen zahlreichen Schülern auf der ganzen Welt als weiser Lehrer verehrt und geschätzt.

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