2021-01-27

UtopienSammlerin: Interview mit Professor Hüther (3): Kindheit und Bildung für eine bessere Gesellschaft!



Professor Gerald Hüther ist Neurobiologe und zählt zu den bekanntesten Hirnforschern im deutschsprachigen Raum. Er ist Autor zahlreicher (populär-) wissenschaftlicher Publikationen und Vorstand der Akademie für Potentialentfaltung.

Lieber Herr Hüther, Sie haben zahlreiche Schriften und Publikationen zum Thema Kindheit und Schulsystem verfasst: Welches ist Ihr Hauptanliegen?

Ich glaube, dass der Weg in eine bessere Gesellschaft vor allem über eine gute Kindheit und über ein tragfähiges Bildungssystem führt. Und hier erkenne ich einige Hindernisse! Die meisten Probleme, die wir unseren Kindern bereiten, sind Probleme, die diese nicht lösen können. Zum Beispiel die Unzufriedenheit der Eltern mit ihrem eigenen Leben, mit ihrem Beruf und all das, was wir täglich erleben. Eltern schleppen alles nach Hause und laden ihre Konflikte dort ab.

Beispielsweise sind Partnerschaftskonflikte etwas, was Kinder nicht lösen können und sie werden trotzdem häufig damit belastet. Es gibt leider viele Eltern und Paare, die nicht in der Lage sind, ihre Partnerschaftskonflikte zu lösen oder sich zu trennen. Damit hat ein Kind ein unlösbares Problem. Besonders schlimm ist es, wenn ein Kind erleben muß, dass es von seinen Eltern wie ein Objekt behandelt wird. Wenn ein Kind zum Objekt einer anderen Person gemacht wird, zerreißt das Band, welches es mit dieser Person verbunden hat. Dadurch wird vermittelt, dass es so, wie es ist, nicht sein soll – so nicht dazu gehören darf. Gleichzeitig zerreißt das Band, wenn es gesagt bekommt, was es zu tun und zu lassen habe.

Was für Konsequenzen haben Probleme, die von Kindern nicht gelöst werden können?

Solche Probleme bedeuten den Bruch mit der eigenen Schöpferkraft, Gestaltungsfähigkeit und Entdeckerfreude. Hier wird den Kindern ein Gehorsam abverlangt, der es notwendig macht, den kleinen Entdecker und Gestalter in sich selbst tapfer zu unterdrücken. Für Kohärenz ist da wenig Raum. Dabei wird das perfekte Funktionierenwollen so fest im Hirn verankert, bis ein Mensch am Ende keine Lust mehr hat, irgendwas zu entdecken, sondern nur noch macht, was ihm andere sagen.

Bedeutet das, dass der Gehorsam, der den Kindern abverlangt wird, letztlich die Innovationskraft und den Zusammenhalt ganzer Gesellschaften gefährdet?

Ja. Die meisten Menschen machen diese Erfahrung bereits im Elternhaus. Die größte menschliche Verletzung beginnt häufig in der Kindheit. Es wird oft früh entweder das Bedürfnis nach Verbundenheit oder das nach den eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, also nach Autononmie, verletzt.

Wie wirken sich solche Verletzungen auf unsere Gesellschaften aus?

In unserer Gesellschaft gibt es viele Menschen, die ihr Bedürfnis nach Verbundenheit unterdrücken oder zu unterdrücken gelernt haben. Wenn man nach der Schule fragt, ist diese gar nicht zentral. In der Schule wird das, was im Elternhaus initiiert wurde, lediglich konsequent und nochmals heftiger fortgeführt. Vielen fällt das nicht auf, da sie schon im Elternhaus diese Erfahrung machten. Dass die Schule ein Ort ist, in dem man zum Objekt gemacht wird, erscheint in der Folge normal, fast selbstverständlich.

Was für Möglichkeiten haben wir – besonders im Hinblick auf ein neues Verständnis von Arbeit?

Handlungsempfehlungen gibt es nicht. Was wir machen können, ist lediglich das Verständnis der Eltern zu wecken, für das, was Kinder wirklich brauchen. Das gilt auch für die Auseinandersetzung de Eltern mit dem Thema digitale Geräte. Wichtig ist vor allem die Auseinandersetzung der Eltern mit diesem Thema. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung muss klar sein, dass digitale Geräte nur Werkzeuge sind, so wie Hammer und Meißel.

Solange Geräte als Werkzeuge und nicht als Mittel der Affektregulation benutzt werden, um ein Werk zu vollbringen, spricht nichts dagegen, dass auch Kinder digitalen Geräte benutzen.

Können Sie mir ein Beispiel für die Nutzung eines digitales Gerätes als Werkzeug nennen?

Ein schönes Beispiel sah ich in einem Kindergarten in Stuttgart. Dort gab man jedem Kind einen Bohnensamen. Dieser wurde auf ein feuchtes Tuch gelegt und eine Kamera installiert. Jeden Tag, wenn die Kinder morgens gekommen sind, wurde der Fortschritt der Bohne fotografiert. Am Ende wurden alle Fotos zu einem Zeitraffer zusammengefügt, so dass es einen kleinen Film ergab. Der wurde auf einen USB-Stick gezogen und die Kinder haben zu Hause zeigen können, wie ihre Bohne wuchs. Das ist die Nutzung eines digitalen Gerätes als Werkzeug. Wunderbar, hier habe ich keinerlei Bedenken, dass das einem Kind in irgendeiner Art und Weise schadet, im Gegenteil.

Digitalisierung als Werkzeug des Menschen ist großartig, nicht aber als Mittel der Affektregulation, sagten Sie in unserem vorangegangenen Interview „Die Suche nach dem Glück in der digitalen Zeit“. Können Sie uns das im Kontext der kindlichen Entwicklung erläutern?

Beispielsweise versuchen viele Kinder heute, fehlende Anerkennung durch Computerspiele, die oft gemeinsam gespielt werden, zu bekommen. Dabei wird das Bedürfnis nach Verbundenheit und Selbstwirksamkeit ersatzweise virtuell gestillt. Im Ergebnis bedeutet das, dass diese Kinder im realen Leben kaum noch Zeit, Gelegenheit und Lust haben, zu erlernen, wie ein Bedürfnis nach eigener Gestaltung tatsächlich befriedigt werden kann. Als Folge verfügen junge Menschen zunehmend nicht mehr über die Fähigkeit, sich im realen Leben zurechtzufinden.

Bei jeder Regung greifen viele Menschen heute sofort auf ihr digitales Gerät zurück. Nicht als Werkzeug, sondern primär, um einen Affekt zu stillen. Dieser wird dann – aber nur vermeintlich – gestillt. Anbieter der digitalen Geräte und Software kennen die Mechanismen natürlich und haben ihre Geräte auf genau diese ungestillten Bedürfnisse ausgerichtet.

Man könnte das übertreiben und behaupten, dass einer von den Konsumbedürfnissen möglichst vieler abhängigen Gesellschaft – in der diese Vorgehensweise verbreitet ist – man froh sein müsste, dass die Hersteller digitaler Geräte darauf achten, dass ihre Produkte immer wieder neue, ungestillte Bedürfnisse bedienen. Denn unser gesamtes Gesellschafts- und Schulsystem funktioniert hauptsächlich auf Basis ungestillter Bedürfnisse und Affekte.

Wie sieht für Sie ein zukunftsfähiges Schulsystem aus?

Digitale Geräte sind sinnvoll, um sich in bestimmten Bereichen Wissen anzueignen: Wenn ich mich beispielsweise für Photosynthese interessiere, würde es höchstens einen halben Tag dauern, bis ich mir entsprechende Erklärvideos angeschaut und alles verstanden habe. Dazu brauche ich nicht einmal mehr eine Lehrkraft.

Voraussetzung ist, dass es mich wirklich interessiert: Digitale Geräte sind wunderbare Werkzeuge zur Wissensaneignung für all jene Schüler, die sich für irgendwas interessieren. All die, die sich für nichts interessieren, brauchen den persönlichen Kontakt zu einer Person, weil es nur so möglich ist, den Lernstoff „emotional aufzuladen“. Das bedeutet, indem das Thema des Unterrichtes an eine Person gebunden wird, die die Schüler mögen. Durch die emotionale Aufladung bekommt der Inhalt eine weitere Bedeutung.

Wenn sich Schüler auf natürliche Art und Weise für den Lernstoff interessieren, sind digitale Geräte wunderbar zu verwenden. Wenn aber kein Interesse besteht – und da reden wir jetzt über diese besonderen Elternhäuser, in denen die Eltern selbst kein Interesse haben, sich irgendwelches Wissen anzueignen – dann sieht die Sache anders aus.

Sie meinen Eltern, die kein Interesse an digitalen Technologien haben?

Nein. Das liegt mit Sicherheit nicht daran, dass von diesen Eltern keine digitalen Geräte genutzt werden. Desinteressierte Eltern haben häufig mehr digitale Geräte als andere, aber sie benutzen diese lediglich zur Affektregulation, beispielsweise um sich Pornos anzuschauen. Wenn Kinder nicht eingeladen, ermutigt und inspiriert werden, sich für irgendwas zu interessieren, dann nützen ihnen digitale Geräte gar nichts. Solche Kinder brauchen eine andere Form der emotionalen Aufladung des Lernstoffes. Das ist dann der Fall, wenn statt Interesse am Thema die Lehrkraft Emotionen weckt.

Ist die Bezugsperson die „emotionale Aufladung des Lernstoffes“?

Ja, besonders deutlich ist das in der Grundschule zu beobachten, wenn beispielsweise der Lehrerin zuliebe Mathe gelernt wird. Doch dieses Lernmodell birgt Gefahren, denn in Wirklichkeit interessiert sich das Kind immer noch nicht für Mathe, sondern interessiert sich in erster Linie dafür, wie es der Lehrkraft gefallen kann.

Die unangenehmste Art und Weise, Lernstoff emotional aufzuladen, passiert an unseren Schulen, durch Belohnungen oder Bestrafungen, durch das Vergeben guter oder schlechter Noten in den Zeugnissen. Hier lernen Kinder nicht, sich für Mathematik, Musik oder Biologie und so weiter zu begeistern, sondern auf ein gutes Zeugnis hin zu arbeiten.

Haben Sie eine Empfehlung für die Eltern?

Ja – ich bitte alle Eltern, sehr genau zu prüfen, ob das wirklich das ist, was sie für ihre Kinder wollen. Denn aus diesen Kindern werden später Erwachsene, die sich nur noch dafür interessieren, wie sie Erfolg haben und Karriere machen.

Wie stellen Sie sich (Aus-)Bildung für das 21. Jahrhundert vor?

Ein solches System sollte nicht weiterführen, was wir im letzten Jahrhundert getan haben. Im letzten Jahrhundert waren Abrichtungs- und Dressurmethoden wahrscheinlich gut geeignet und möglicherweise sogar der einzige Weg, um die Industrie- und Maschinengesellschaft aufzubauen, aus der wir kommen. Dafür musste jeder Schüler dazu gebracht werden, dass er einfach nur gehorcht. Kein Mitdenken, kein kreativ sein, mit anderen gemeinsam nach einer Lösung suchen, auch Fehler erkennen und aus Fehlern lernen, war dafür gefragt. Darauf kam es nicht an.

Leider sind unsere Schulen größtenteils auf dieser Stufe stehen geblieben und jetzt entlassen wir junge Menschen in ein Leben, die nicht gelernt haben, wie das eigentlich geht: Leben! Wenn wir Glück haben, sind sie gut ausgebildet. Aber, wenn wir ehrlich sind, geben wir vielleicht sogar zu, dass unsere Bildungseinrichtungen nicht auf ein gelingendes Leben vorbereiten, sondern ausschließlich auf ein erfolgreiches Berufsleben.

Was können wir tun, um zu einem neuen Ausbildungs-System zu gelangen?

Ich meine, dass wir unsere Schulen zunächst in ihrer Bedeutung einschränken müssen! Es wäre gar nicht so schlecht, endlich offen zuzugeben, dass Schulen nur einer Sache dienen: Dem Aufbewahren, der Vorbereitung auf ein Arbeitsleben und zum Aussortieren von Schülern.

Unsere Schulen haben die Dimension eines aufgeblasenen Elefanten. Einer, der nicht nur die Schüler, sondern auch Eltern und Lehrer niedertrampelt. Der einzige Ausweg scheint zu sein, diesem Elefanten die Luft rauszulassen, um die Bedeutung, die diese Institution inzwischen erlangt hat, zu verringern. Nur ihre vordergründige Funktion kann man als Bildungssystem bezeichnen.

Was wäre die Konsequenz eines solchen „Bedeutungs-Entzuges“?

Würde man dies tun, merkte man schnell, dass wir für Lernprozesse Kinder und Jugendliche brauchen, die für das Leben lernen. Dafür bleibt in unserem derzeitigen System überhaupt kein Raum. Es bleibt kaum Zeit neben der Schule: Weder Zeit zur Feuerwehr zu gehen, noch für den Sportverein und so weiter. Die Schüler müssen immerzu Hausaufgaben machen und sich auf die Aufgaben in der Schule vorbereiten.

Welche Rolle haben die Familien und Lehrer in unserem System?

Familien kommen nicht dazu, ein vernünftiges Familienleben zu planen, weil sich alles nur noch um die Schule dreht und die Lehrer kommen nicht mehr dazu, sich zu fragen, warum sie eigentlich Lehrer geworden sind, weil sie sich, sozusagen, als Erfüllungsgehilfen kultusministerieller Vorgaben erleben.

Haben Sie eine konkrete Zukunftsvision?

Das, was wir anstreben – die Veränderung von Schulen – ist durchaus nicht banal und einfach. Wenn ich dies konkret als Zukunftsvision formuliere, dann wäre die Schule der Zukunft ein Ort an dem Kinder Bildung fürs Leben erwerben. Schule wäre in dieser Vision jeder beliebige Ort einer Gemeinschaft, an dem Kinder etwas lernen können.

Wenn sich beispielsweise ein ganzer Stadtteil als Ort des Lernens begreift, dann könnten Kinder und Jugendliche dort viele Dinge lernen und anschauen. Die verschiedenen Lebensbereiche wie Bäcker, Kaufmann, Handwerker oder auch Bestattungsinstitute könnten Einblick in ihr Wissen liefern.

Ein Stadtteil würde zu einer Art „Bildungscampus“ und ist in meiner Vision ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche eingeladen werden, sich anzuschauen, was passiert und zu erleben, wie Erwachsene versuchen, in verschiedenen Bereichen wundervolle Arbeit zu machen. Wenn unsere Kinder die Gelegenheit hätten, auf diese Weise zu lernen, worauf es im Leben einkommt, dann wird wahrscheinlich jener Augenblick passieren, an welchem sie feststellen, dass ihnen Wissen fehlt. Dieses Wissen könnten sie dort ergänzen, wo früher die Schule stand, die nun ein Bildungshaus wäre. In dieses Bildungshaus würden Schüler gehen und sagen, welches Wissen ihnen fehlt. Dort sollten kompetente Menschen arbeiten, die Schülern helfen, die richtigen Instrumente, Methoden, Techniken und Vorlagen zu finden.

Was würden die Schülerinnen und Schüler in solchen Bildungshäusern vorfinden?

Alles, was sie brauchen, um sich mit intrinsischer Motivation Wissen kompetent anzueignen. Dafür benötigt man kompetente Begleiter.

Ob das Lehrer sein müssen, weiß ich gar nicht. Es kann sein, dass unsere Lehrer so ausgebildet sind, dass sie große Schwierigkeiten haben, eine solche Aufgabe zu übernehmen. Gut möglich, dass jemand, der früher im Leben mal Fußballtrainer war, das sehr viel besser kann.

Erfahre mehr in dem neuen Buch von Professor Gerald HütherWege aus der Angst„.

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